Justiz-Debakel: Als Opfer rein, als Täterin raus

«Ce cas doit tous nous alerter» Le Quotidien 1 juillet 2021

In Luxemburg meldete ein Missbrauchsopfer ohne Aufenthaltsgenehmigung ihren gewalttätigen Arbeitgeber der Polizei. Statt Opferschutz zu erhalten, drohte ihr danach die Abschiebung. Mehrere Organisationen schlugen letzten Donnerstag in einem offenen Brief Alarm. Jetzt rudern die zuständigen Behörden zurück.

Fälle wie der von Letícia bestätigen die Furcht vieler Missbrauchsopfer ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung: Aus Angst vor der Abschiebung ziehen sie es vor, über Ausbeutung und Gewalt zu schweigen. (Bildquelle: Kat Jayne/Pexels)

„Das Leben ist zu kurz, um es nicht zu genießen“, sagte Letícia* sich 2019. Das war, nachdem ihr Bruder bei einem Familiendrama ums Leben gekommen war. Ein Wendepunkt im Leben der jungen Brasilianerin. Sie kündigte ihren Job, um die Welt zu bereisen. Letícia hatte was auf der hohen Kante. Sie brach nach Paris auf, machte Urlaub in Kroatien und Deutschland. Im Großherzogtum landete sie Ende 2019, kurz vor Ausbruch der Pandemie – dann überschlugen sich die Ereignisse.

Letícias Aufenthalt in Luxemburg zog sich aufgrund der Krise hin. Ihre Reiseversicherung lief aus und sie hatte keine gültige Aufenthaltsgenehmigung. Zurück nach Brasilien zu fliegen, kam für sie trotzdem nicht in Frage: Die Situation dort verschlechterte sich zunehmend. Letícia schloss eine Assurance de maladie volontaire bei der luxemburgischen CNS ab, für 123 Euro monatlich. Eine Option für alle, die nicht über andere Wege krankenversichert sind. Ihre Nächte verbrachte Letícia zunächst in Hotels, doch dann wurde das Geld langsam knapp. Sie suchte Arbeit.

Jemand empfahl ihr ein Café im Süden des Landes: Der Arbeitgeber nehme das mit der Arbeitserlaubnis nicht so ernst. Letícia kellnerte schon bald für zehn Euro die Stunde, oft zehn bis zwölf Tage am Stück. Ohne Arbeitsvertrag. Freitage oder eine Dispens für Arztbesuche erlaubte ihr Arbeitgeber nicht. Ihre Anfragen lehnte er aggressiv ab. Dasselbe tat er mit anderen Angestellten. Niemand in dem Laden verfüge über einen Arbeitsvertrag, berichtet Letícia.

Missbrauch am Arbeitsplatz

Im Gegensatz zu ihren Kolleg*innen, fügte sie sich ihrem Chef nicht. Sie sprach ihren Arbeitgeber auf die Umstände an: Warum entlohnte er Sonntagsarbeit nicht höher? Warum gab es keine Ruhetage? Die Antwort fiel klar aus. „So ist das, wenn du Kellnerin bist. Daran wirst du nichts ändern. Du hast keine Rechte“, zitiert ihn Letícia. Sie wusste, dass sie ausgebeutet wurde, musste aber über die Runden kommen und blieb. Inzwischen mietete sie ein Zimmer an.

Der Ton ihres Chefs verschärfte sich nach ersten Auseinandersetzungen. Er griff sie verbal an und forderte ihre Zuneigung ein. Er fragte, ob ihr Partner es ihr richtig besorge, begrapschte sie am Hintern und an der Taille. Auf ihre Ablehnung reagierte er mit Beleidigungen. „Er sagte: ‚Brasilianische Frauen sind alles Prostituierte. Stell dich nicht so an.‘ Das hat mich zutiefst verletzt“, erinnert sich Letícia. „Meine Mutter ist Brasilianerin. Meine Nichte ist Brasilianerin. Sie sind keine Prostituierten.“ Als sie später nach einem Streit um einen ausgebliebenen Monatslohn die Polizei anrufen wollte, wurde er handgreiflich und schlug ihr das Handy aus der Hand. Anschließend bedrohte er sie per SMS und schüchterte sie ein.

Mehrere Zeug*innen der Ereignisse weigerten sich aus Angst vor dem Arbeitgeber, Letícia bei einer Anzeige zu unterstützen. Erst Jessica Lopes, Sozialarbeiterin bei der Asti, begleitete sie zu einem Kommissariat. Die Ermittler*innen interessierte dort aber vor allem eins: die fehlende Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis der Brasilianerin.

Die junge Frau wurde stundenlang verhört und zu ihren Absichten befragt. Lopes übersetzte vom Portugiesischen ins Luxemburgische und umgekehrt. Man wollte wissen, ob Letícia ihre Familie nach Luxemburg holen will. Nach ihrem Befinden oder ihrer Sicherheit fragte niemand. Letícia war enttäuscht, dass selbst eine weibliche, Schwarze Ermittlerin, die sich dem Fall annahm, keinerlei Empathie zeigte. „Als ich sie gesehen habe, hatte ich die Hoffnung, dass sie weniger machohaft und rassistisch ist als ihre männlichen, weißen Kollegen“, sagt sie.

Würde gegen Papiere

Die Polizei kontaktierte die Direction de l’Immigration und beschlagnahmte ihren Pass. Letícia stand eine Rückführung bevor. Auf ihre Anzeige ging man, so Lopes und Letícia, nicht weiter ein. „Ich ging als Opfer rein und kam als Täterin wieder raus“, sagt Letícia. Plötzlich machte es für sie Sinn, dass ihr Chef seine Spielchen schon seit zwanzig Jahren – das erfuhr sie von einem seiner besten Freunde, der ihr im Café „nur zum Spaß“ eine Messerklinge an den Hintern hielt – ungestört treiben konnte: Er kam damit durch, weil die Betroffenen sich zu Recht vor der Polizei fürchteten und von einer Anzeige absahen.

Dabei gibt es durchaus Gesetze, nach denen Arbeitgeber*innen sowohl für die illegale Beschäftigung von Angestellten als auch für die Einstellung von Drittstaatsangehörigen ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung bestraft werden. Jessica Lopes schüttelt im Gespräch mit der woxx beim Verweis auf die Rechtslage den Kopf: „Diese Gesetze werden nicht umgesetzt. Es gibt auch nicht ausreichend Kontrollen von der ITM (Anm.d.R.: Inspection du travail et des mines).“ Fälle wie den von Letícia kennt sie viele. Oft sind es Frauen, die in solchen Abhängigkeitsverhältnissen feststecken.

Die EU-Richtlinien vermitteln im Hinblick auf die Rechte der Betroffenen widersprüchliche Informationen. Nach den Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten müssen Opfer, die der Gefahr einer „sekundären und wiederholten Viktimisierung, Einschüchterung und Vergeltung“ ausgesetzt sind, besonders geschützt werden. Wenige Artikel weiter heißt es, dass die Rechte gemäß der Richtlinie unabhängig vom Aufenthaltsstatus, der Staatsbürgerschaft oder der Nationalität des Opfers sein soll – und weiter: „Die Anzeige einer Straftat und das Auftreten in Strafprozessen verleihen keine Rechte in Bezug auf den Aufenthaltsstatus des Opfers.“

Foto: CC BY Wolfram Burner NC 2.0

In der Employers Sanctions Directive steht hingegen unmissverständlich in Artikel 14: „Mit Blick auf die Straftaten nach Artikel 10 (…) gewähren die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörigen, die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind oder waren und in Verfahren gegen den Arbeitgeber Kooperationsbereitschaft zeigen (…) befristete Aufenthaltserlaubnisse entsprechend der Dauer der betreffenden innerstaatlichen Verfahren.“ Hierauf beruft sich auch die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) in ihrem kürzlich erschienenen Bericht „Protecting migrants in an irregular situation from labour exploitation. Role of the Employers Sanctions Directive“. Laut FRA wird der Artikel in Luxemburg angewandt.

Umso unverständlicher ist das, was Letícia und Jessica Lopes auf dem Kommissariat erlebt haben. Auf Nachfrage wurde den Frauen mitgeteilt, der Arbeitgeber müsse sich demnächst zu den Vorfällen äußern. Das war’s. Fünf luxemburgische Organisationen – Asti, CID Fraen an Gender, Finkapé – Réseau afro-descendant Luxembourg, CLAE und Time for Equality – gingen sofort mit einem offenen Brief an die Öffentlichkeit und kontaktierten die zuständigen Minister*innen. Die woxx berichtete – und hakte vergangenen Freitag ebenfalls bei mehreren Minister*innen nach: Taina Bofferding (Innenministerin), Corinne Cahen (Ministerin für Integration), Jean Asselborn (Außenminister) und Henri Kox (Minister für Innere Sicherheit).

Knapp und beleidigt

Cahen ist die Einzige, die persönlich mit der woxx sprach. Sie betonte, der Fall betreffe ihr Ministerium zwar nicht, zeigte sich jedoch erschüttert. „Diese Frau darf nicht für ihren Mut bezahlen. Opfer gehören geschützt. Ich finde außerdem, dass ein Arbeitsverhältnis Grund genug für die Ausstellung einer Aufenthaltsgenehmigung ist“, sagte sie. Seit dem Gespräch mit Cahen haben sich auch Asselborn und Kox per Pressemitteilung zu Wort gemeldet.

Asselborn teilte am Dienstag mit, dass die angekündigte Rückführung inzwischen aufgehoben wurde. Er sei offen für Gespräche. Eine knappe Stellungnahme, der sich Bofferding nach Aussagen einer ihrer Pressesprecherinnen anschließt. Ein offizielles Statement ihrerseits – zum Beispiel ein klares Zeichen gegen die Einschüchterung von Opfern sexualisierter Gewalt und für ihren Schutz, unter anderem gemäß der Istanbul Konvention – blieb aus.

Kox’ Kommentar wirkt beleidigt: „[A]ucune prise de contact n’avait été entreprise préalablement à la publication du communiqué de presse conjoint des associations (…), le ministère de la Sécurité intérieure s’est concerté sans attendre avec la police grand-ducale, en vue d’analyser les faits avancés.“ Ein Gespräch der Organisationen mit dem Ministerium hätte vor der Veröffentlichung des Briefes jedoch auch nichts an der Tatsache geändert, dass Letícia auf dem Kommissariat offensichtlich Fehlinformationen über ihre Rechte und keinen angemessenen Opferschutz erhielt. Letícias Fall hätte sich allerdings gut unter dem Teppich gemacht, unter den Fehltritte staatlicher Institutionen generell gern gekehrt werden, nachdem sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit geklärt wurden.

Kox gibt ferner an, dass die Analyse des Aufenthaltsstatus einer Person ohne Papiere nicht in den Zuständigkeitsbereich der Polizei fällt. Räumt er damit Fehler vonseiten der Polizei ein? Kox’ Pressesprecherin zeigt auf Nachfrage mit dem Finger auf das Außenministerium: „Die Pässe werden sehr wohl von der Polizei abgenommen, aber auf Anordnung des Außenministeriums.“ Bei wem der Fehler in Letícias Fall am Ende lag, bleibt demnach unklar. Derweil versichert Kox in seiner Mitteilung, dass die Zusammenarbeit und der Austausch zwischen den Instanzen wichtig seien.

Und was ist mit dem Opfer? Letícia verschwindet zwischen den Zeilen der Minister – und mit ihr alle anderen, die Ähnliches durchmachen. Kox und Asselborn unterstreichen beide, dass sie bis zu dieser Woche nichts von dem Fall wussten. Für Jessica Lopes wirft das Fragen auf: „Wie kann es sein, dass die Direction de l’Immigration erst jetzt von der Anzeige weiß? Hat die Polizei die Informationen falsch weitergegeben? Als Sozialarbeiterin brauche ich eine schriftliche Versicherung, dass ich in Zukunft weiterhin mit Opfern von Straftaten zur Polizei gehen kann, ohne dass ihre Ausweisdokumente beschlagnahmt werden.“

Immerhin zeigte sich Letícias Vermieter kulant: Die ausstehende Monatsmiete muss sie nicht begleichen. Mithilfe der Asti will sie jetzt einen Titre de séjour pour raisons privés anfragen.


«Ce cas doit tous nous alerter»
L’ordre d’éloignement visant la jeune femme en situation irrégulière qui a dénoncé les abus de son patron est suspendu : le dialogue est ouvert entre associations et autorités.

Le Quotidien 01-07-2021

Sergio Ferreira de l’ASTI : «Seule la régularisation de ces personnes peut mettre fin aux abus.»

L’affaire fait grand bruit et les réactions pleuvent depuis que cinq associations – ASTI, CLAE, Finkapé, Time for Equality et CID Fraen a Gender – ont décidé de la porter sur la place publique : une jeune Brésilienne en situation irrégulière est menacée d’expulsion après avoir dénoncé le harcèlement sexuel et les violences infligés par son patron.

Alors que la jeune femme est convoquée à la direction de l’Immigration aujourd’hui, le ministre Jean Asselborn a d’ores et déjà annoncé que l’ordre d’éloignement était suspendu pour le moment et s’est dit «ouvert à toute suggestion améliorant la protection des victimes visées»,dans sa réponse à une question parlementaire urgente du député Paul Galles (CSV). De quoi apaiser les esprits.

«C’est une première bonne nouvelle», commente Sergio Ferreira, porte-parole de l’ASTI (Association de soutien aux travailleurs immigrés). «Elle ne sera pas expulsée immédiatement et la direction de l’Immigration est prête à dialoguer pour déterminer quel titre de séjour peut lui être accordé ou pas, et voir quelles solutions peuvent être trouvées», explique-t-il.

Des drames se jouent en coulisse

Car au-delà du cas particulier de cette jeune femme, c’est toute la question du traitement des personnes sans papier victimes d’abus qui est sur la table. Et «il y a de sérieux dysfonctionnements», pointe Sergio Ferreira, évoquant par exemple le fait que, dans un premier temps, la direction de l’Immigration a seulement reçu le signalement de la situation irrégulière de la victime, mais pas sa plainte. «Nous allons formuler des propositions, avec les autres associations, pour que cela ne se répète pas, car si notre assistante sociale n’était pas intervenue, cette femme aurait déjà été expulsée du territoire et son patron ne serait pas inquiété», déplore le porte-parole.

Ce scénario, les associations veulent à tout prix l’éviter : «Il est important pour nous que les autres victimes d’abus comprennent qu’il y a une possibilité de dénoncer ces faits sans subir de trop lourdes conséquences», insiste-t-il.

Si ce n’est pas la première fois que les équipes de l’ASTI font face à ce genre de violences sur des personnes vulnérables, le flagrant délit est rare : «Ici, les messages reçus par la victime sur son téléphone de la part de son patron ne laissent pas de place au doute. Malheureusement, on ne dispose pas souvent de preuves dans ce genre de cas.»

De quoi renforcer la défense de cette Brésilienne. Arrivée au Luxembourg en février 2020 avec un visa touristique, puis bloquée sur le territoire par la crise sanitaire, elle manque d’argent et accepte un emploi de serveuse, payé sous le manteau. Son chef ne tarde pas à profiter de la situation. Elle subit attouchements, violence verbale, physique et menaces. Après des mois de harcèlement, elle trouve enfin le courage de parler à une assistante sociale de l’ASTI. C’est elle qui l’accompagnera au commissariat pour porter plainte, avec la suite qu’on connaît.

«C’est un cas qui doit tous nous alerter», prévient Sergio Ferreira. «On doit être conscients que derrière les bistrots et les terrasses qu’on aime tant, se jouent parfois des drames humains. Seule la régularisation de ces personnes peut mettre fin aux abus. C’est ce que nous demandons.»

Les cinq associations qui ont alerté l’opinion publique espèrent maintenant que cet exemple, très médiatisé, servira de déclencheur pour obtenir des mesures politiques fortes en matière de protection des migrants en situation irrégulière.