Das unerfüllte Versprechen 

Antirassismus 60 Jahre nach Martin Luther Kings berühmter Rede

Stefan Kunzmann tageblatt 26 August 2023
Vor 60 Jahren hielt der
US-Bürgerrechtler Martin
Luther King seine berühmte
„I have a dream“-Rede.
Noch heute ist rassistische Diskriminierung weit verbreitet: nicht nur in Amerika, sondern weltweit – so auch in Luxemburg. Der Autor
hat sich jahrelang mit dem Thema beschäftigt und viele Gespräche darüber geführt. Eine Zwischenbilanz.
Es ist ein heißer und schwüler Sommertag. Die Viertelmillion Menschen, die sich am 28. August 1963 vor dem Lincoln Memorial in Washington einfinden, sind aus den ganzen USA angereist, um Martin Luther King Jr. zuzuhören. Seine Rede, berühmt geworden durch die Worte „I have a dream“, bildet den Abschluss des Marschs auf Washington gegen die Rassendiskriminierung und wird einen Höhepunkt in der Geschichte der US-Bürgerrechtsbewegung darstellen. King sagt, dass „die schwarzen Amerikaner durch die Fesseln der Rassentrennung und die Ketten der Diskriminierung gelähmt“ werden und das Versprechen der US-amerikanischen Verfassung, dass alle Bürger gleiche Rechte und Chancen auf ein erfülltes Leben haben, für sie noch immer nicht gelte. Als ihn die Sängerin Mahalia Jackson auffordert, von seinem Traum zu erzählen, legt er sein Manuskript zur Seite. Aus seiner Rede wird eine Predigt. King spricht wie ein Prophet von einem verheißenen Land, „in dem alle Menschen gleich geschaffen sind“. Der Baptistenpastor und Bürgerrechtler sagt: „Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der sie nicht nach der Farbe ihrer Haut, sondern nach dem Wesen ihres Charakters beurteilt werden.“
Zu jener Zeit herrscht in den USA noch die Rassentrennung, institutionalisiert und praktiziert vor allem in den Südstaaten. Sie gilt in allen Bereichen der Gesellschaft – ob im öffentlichen Transport oder im Gesundheitssystem, in den Schulen oder auf dem Arbeitsmarkt, im Alltag oder in Politik, denn schwarze Amerikaner werden daran gehindert, wählen zu gehen. Die Bürgerrechte, die den Afroamerikanern zustehen, werden ihnen vorenthalten. Doch King lässt nicht locker: Am 11. Juni 1963 kündigt US-Präsident John F. Kennedy das lange versprochene Antidiskriminierungsgesetz an, den Civil Rights Act. Doch Kennedy fällt am 22. November 1963 einem Attentat zum Opfer. Sein Nachfolger Lyndon B. Johnson unterzeichnet erst am 2. Juli 1964 den von Kennedy eingebrachten Civil Rights Act – und 1965 den Voting Rights Act.
Zwar wird damit der gesetzliche Rahmen für das Ende der Diskriminierung geschaffen. Aber bis Kings Traum wahr wird, dauert es noch lange – bis in die Gegenwart. Der Rassismus hat ihn überlebt, King wird am 4. April 1968 erschossen. Nicht nur in den USA bleibt der Rassismus aktuell, sondern weltweit. Etwa in Südafrika, wo die Apartheid zwar offiziell Anfang der 90er Jahre endet, aber bis heute in der südafrikanischen Gesellschaft nachwirkt, oder in Brasilien, dessen Ungleichheit nicht zuletzt durch den „racismo“ geprägt ist. Aber auch in Europa gibt es nach wie vor einen tief verwurzelten, strukturellen Rassismus.

George Floyds Tod 
und die Folgen

Nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd in Minneapolis am 25. Mai 2020 gingen in vielen Städten der Welt Menschen auf die Straße, um gegen Rassismus und Polizeigewalt zu protestieren. Im Zuge der weltweiten Proteste der antirassistischen Organisation Black Lives Matter kam es ungefähr zehn Tage nach Floyds Tod auch zu einer Demonstration vor der US-Botschaft in Luxemburg. Die Demonstranten hatten auf Schilder unter anderem „I can’t
breathe“ geschrieben, die letzten Worte von George Floyd.
Wie in den USA führten in Frankreich mehrere Fälle tödlicher Polizeigewalt zu Protesten, die in schweren Ausschreitungen vorwiegend in den Banlieues mündeten. Das Committee on the Elimination of Racial Discrimination (CERD) warf der französischen Polizei nach dem Tod des 17-jährigen Nahel Merzouk, eines Franzosen algerisch-marokkanischer Abstammung, bei einer Polizeikontrolle in Nanterre strukturellen Rassismus und exzessive Gewaltanwendung vor. Das internationale Expertengremium zeigte sich zudem besorgt über die anhaltende Praxis des Racial Profiling, ein auf Stereotypen und äußerlichen Merkmalen beruhendes Vorgehen der Sicherheitskräfte unter anderem bei Personenkontrollen. Der Tod von Nahel Merzouk war längst nicht der erste tödlich verlaufende polizeiliche Übergriff in Frankreich. So war zum Beispiel auch der aus Mali stammende Adama Traoré 2016 in Paris im Gewahrsam der französischen Ordnungshüter gestorben. Ebenso hatte der Tod zweier Jugendlicher auf der Flucht vor der Polizei die Unruhen im Oktober und November 2005 ausgelöst.
Kaum besser ist die Situation in Großbritannien, wo ein unabhängiger Untersuchungsbericht zu dem Ergebnis kam, dass die Londoner Polizei rassistisch, frauenfeindlich und homophob ist. Derweil wurde in Deutschland der Bericht „Rassismus in Deutschland: Ausgangslage, Handlungsfelder, Maßnahmen“ vorgelegt: Etwa 90 Prozent der Befragten einer Umfrage sagten, dass es in Deutschland Rassismus gibt – 22 Prozent gaben an, dass sie ihn selbst erfahren hatten. Dass rassistische Erfahrungen vielschichtig sein können, zeigt das Buch „People of Deutschland“ über Menschen, die Erfahrungen mit Rassismus im Alltag gemacht haben. „Alltagsrassismus kommt mit dem Paradox, dass er von allen und jedem ausgehen kann, selbst von Menschen, die einen aufrichtig mögen und nicht merken, wenn sie einen verletzen“, schreibt Martina Rink, eine der Herausgeberinnen. Dieser latente Rassismus könne zerstörerischer wirken als ein ideologisch getriebener Rassismus. Dabei handelt es sich um häufig unbewusste Vorurteile und Stereotypen. Das Buch zeigt, dass alle Menschen Vorurteile haben. Diese Muster ergeben sich aus der Sozialisation. Allerdings sind sie auch veränderbar.

Alltäglicher und 
struktureller Rassismus

Die einzelnen Fälle rassistischer Polizeigewalt in anderen Ländern haben ebenso hierzulande den Fokus auf die alltägliche wie auch die strukturelle Diskriminierung gelenkt. Vor allem Menschen mit afrikanischen Wurzeln sind dieser ausgesetzt. Als ich mit Nelson Neves darüber spreche, erzählt er mir, wie er in seiner Jugend Opfer von Rassismus war. „Damals löste das in mir eine große Wut aus“, sagt der luxemburgische Künstler mit kapverdischen Wurzeln. Er selbst habe gelernt, mit der Diskriminierung umzugehen. „Früher war ich jedes Mal wütend darüber und habe mich geprügelt. Der Leidtragende war letztendlich immer ich selbst“, erzählt der Künstler. „Heute bewahre ich Ruhe, kompensiere das, indem ich male oder meide einfach Orte, in denen Leute andere rassistisch beleidigen.“ Seinen Kindern habe er beigebracht, darüberzustehen. Als Künstler stehe er in der Öffentlichkeit und nutze dies auch, um auf die Probleme aufmerksam zu machen. In einem Interview mit der Wochenzeitung Contacto sagte er einmal, um auf die genannten Stereotype hinzuweisen: „Ich bin Kapverdier, greife keine Menschen an, verkaufe keine Drogen und mag keine Gewalt.“
Nelson erinnert sich, wie er als junger Mann eine Wohnung suchte: „Meine Frau und ich waren kurz vor der Wohnungsbesichtigung. Wir hatten alle nötigen Dokumente dabei. Als wir vorstellig wurden, sagte man uns plötzlich, dass die Wohnung schon vergeben sei. Man wollte wohl keine Kapverdier in der Wohnung haben.“ Der heute 50-Jährige teilt diese Erfahrung mit vielen anderen Immigranten, die nicht mehr darüber schweigen wollen. So etwa mit Antonia Ganeto von der Vereinigung „Finkapé“, die sich für die Belange aus Afrika stammender Menschen einsetzt. Sie sagte mir vor drei Jahren in einem Interview, abgedruckt im Juni 2020 in der Revue, dass man ihr „direkt ins Gesicht sagte, Ausländer und insbesondere Afrikaner seien ‚primitiv‘“. Antonia Ganeto kam mit fünf Jahren nach Luxemburg. „Als Kind erlebte ich direkten Rassismus“, erinnert sie sich. „In den 70er Jahren gab es hierzulande nur wenige Menschen mit dunkler Hautfarbe. Ich wurde damals beschimpft und ausgeschlossen. Meine Familie und mein Umfeld haben vieles in dieser Hinsicht erlebt. Die Zeiten haben sich zwar geändert, der direkte Rassismus hat abgenommen, obwohl es ihn bestimmt noch gibt. Aber der strukturelle Rassismus ist subtiler. Der hat sich nicht geändert.“
Es handelt sich also nicht zwingend um Gewalterfahrungen, sondern um permanente, alltägliche Erlebnisse, die den Betroffenen das Gefühl geben, nicht zur Gesellschaft zu gehören. Der Alltagsrassismus schmerzt ebenso und hinterlässt Narben – und wirkt sich deutlich auf das Selbstwertgefühl der Diskriminierten aus. „Er basiert auf der Tatsache, dass Menschen immer die Tendenz haben, andere Menschen zu klassieren“, erklärt Antonia Ganeto. „Die einen behaupten, sie seien besser und zivilisierter als die anderen. Auf diese Weise entstehen Stereotype, die sich verfestigen. Viele dieser Stereotypen gehen auf den Kolonialismus zurück.“
Die Ausstellung über Luxemburgs koloniale Vergangenheit im „Musée national d’histoire et d’art“ (MNHA) im vergangenen Jahr gab Aufschluss darüber, dass sich die Beteiligung Luxemburgs am belgischen Kolonialismus nicht nur auf Einzelfälle beschränkt hatte. Luxemburger wurden für Karrieren in der Kolonie angeworben und genossen die gleichen Rechte wie ihre belgischen Kollegen. Entgegen der offiziellen Staatsdoktrin war das Land alles andere als neutral und sogar Mitglied in der „Fédération internationale des coloniaux et anciens coloniaux“. Aus der Kolonialzeit stammt das weiße Überlegenheitsgefühl, im englischsprachigen Raum „white supremacy“ genannt, das hierzulande seinen Niederschlag fand, wenn zum Beispiel Afrikaner in der „Schueberfouer“ zur Schau gestellt wurden.
Der unverhohlen direkte, vulgäre Rassismus jener Zeit ist im Lauf der Jahrzehnte einem eher versteckten gewichen, der sich als institutioneller oder struktureller Rassismus in verschiedenen Lebensbereichen äußert: etwa im Bildungswesen, im Wohnsektor und in der Arbeitswelt. Zu der Situation in den Schulen sprach die Sozialarbeiterin Mirlene Fonseca Monteiro im Rahmen ihrer Masterarbeit in „Ingénerie et action sociale“ mit 22 Jugendlichen kapverdischer Abstammung – und fand heraus, dass diese von klein auf das Gefühl des Andersseins vermittelt bekommen haben. „Auf der einen Seite das ‚Wir‘ der Luxemburger und auf der anderen Seite das ‚Ihr‘ der Ausländer“, sagte sie im Interview. Obwohl sie in Luxemburg geboren und aufgewachsen sind, obwohl sie die luxemburgische Nationalität haben und Luxemburgisch sprechen, werden sie als Fremde betrachtet, stellte Mirlene Fonseca fest. „Du kannst machen, was du willst, du wirst nie zu hundert Prozent einer von ihnen sein“, sagte einer der von ihr befragten Jugendlichen.
Mirlene Fonseca stellte einige Ergebnisse ihrer Untersuchungen bei der Konferenz „Being Black in Luxembourg“ im November 2019 vor. Die Veranstaltung stieß eine Diskussion über Rassismus in Luxemburg an. Die Organisatoren – die Ausländerhilfsorganisationen ASTI und CLAE sowie die Luxemburger Menschenrechtskommission – hatten zu der Veranstaltung aufgerufen, um über die von der Europäischen Agentur für Menschenrechte aufgeworfenen Missstände zu diskutieren: In deren 2018 veröffentlichten Studie „Being Black in the EU“ über die Diskriminierung dunkelhäutiger Menschen schnitt Luxemburg schlecht ab. So gab jeder zweite Bürger dunkler Hautfarbe an, in den fünf vorausgegangenen Jahren rassistisch beleidigt worden zu sein. Und etwa 70 Prozent der Befragten sagten, wegen ihrer Hautfarbe und Herkunft benachteiligt worden zu sein. Michael O’Flaherty, Direktor der Agentur, nannte die Situation „äußerst besorgniserregend“.
Bei der Jobsuche und bei der Ausübung seiner Arbeit fühlte sich etwa jeder zweite Teilnehmer der Studie aufgrund seiner Hautfarbe benachteiligt. Hinzu kommt die prekäre finanzielle Situation, in der sich viele Menschen mit dunkler Hautfarbe befinden. 56 Prozent von ihnen sehen sich finanziell gefährdet und 14 Prozent haben Schwierigkeiten, um über die Runden zu kommen. Nach einer Studie des „Centre d’étude et de formation interculturelles et sociales“ (Cefis) von 2017 verfügen die kapverdischen Einwanderer über die im Vergleich zu anderen Einwanderergruppen im Durchschnitt kleinste Wohnfläche. Eine andere markante Zahl ist der geringe Anteil von Schülern kapverdischer Herkunft in den klassischen Lyzeen: zu jenem Zeitpunkt drei Prozent – im Vergleich zu 31,5 Prozent unter der Gesamtbevölkerung.

Diskriminierung in 
mehreren Bereichen

„Menschen afrikanischer Abstammung werden schon von vornherein auf schulische Laufbahnen hin orientiert, die wenig Zukunft haben. Ihre Wünsche werden oft überhaupt nicht berücksichtigt“, stellte Antonia Ganeto fest. „Sie haben später weniger Chancen, was einen Teufelskreis ergibt“, weiß Antonia Ganeto. „So kommt es zu einer Mehrfachdiskriminierung. Was das Einkommen betrifft, ist es ähnlich. Gerade im Wohnungsbereich ist es besonders drastisch. Wenn man als Mensch dunkler Hautfarbe eine Wohnung sucht, hat man Angst, dass eine Kandidatur erst gar nicht angenommen wird. (…) Daraus wurde eine kollektive Erfahrung.“ Der strukturelle Rassismus hat viele Facetten, sagte mir Antonia Ganeto. Darüber könne auch diese „Farbenblindheit“ nicht hinwegtäuschen. Letztere wird zunehmend, insbesondere von Anti-Rassismus-Aktivisten der „Critical Whiteness“, kritisiert. Sie haben den Rassismus nur verschleiert, behauptet zum Beispiel Keeangha-Yamattha Taylor, Autorin des Buches „Von Black Lives Matter zu Black Liberation“ (2017). „Black Lives Matter“ ist laut Taylor unter anderem eine Reaktion auf diese Verschleierung des Rassismus und auf Enttäuschung vieler Afroamerikaner über die Präsidentschaft von Barack Obama.
Nicht als Teil der Gesellschaft wahrgenommen zu werden, und weitgehend „unsichtbar“ zu sein, gehöre zu den Erfahrungen, die viele Menschen mit afrikanischen Wurzeln auch in Luxemburg machen, bestätigte Ghislaine Tchiusseu von „Kweni“, der Vereinigung afrikanischer Frauen, in einem Interview mit dem Tageblatt im März 2020. „Es ist das Gefühl, als ob Menschen mit dunkler Hautfarbe in der luxemburgischen Gesellschaft nicht existieren“, so die Französin Ghislaine Tchuisseu. Um der „schwarzen“ Gemeinschaft mehr Sichtbarkeit zu verleihen, habe sie „Kweni“ gegründet.
Unter dem Einfluss der Proteste von „Black Lives Matter“ wurde das Augenmerk auch auf rassistische Tendenzen in den europäischen Ländern gerichtet. „Es war höchste Zeit. Denn in Luxemburg war darüber bisher wenig geforscht worden“, sagte mir Michel Tenikue vom Luxembourg Institute of Socio-Economic Research (Liser) in einem Interview 2022. Dass Rassismus auch in Luxemburg gegenwärtig ist, sei lange verdrängt worden, so der Ökonom. Die Vorstellung, das Großherzogtum sei eine diskriminierungsfreie Zone – „eine Insel der Glückseligen“ –, sei „Teil des Nation Branding, mit dem die Regierung Touristen, Kunden, Arbeitskräfte und Kapital anlocken will“, schrieb Fernand Fehlen in der Zeitschrift Forum im Oktober 2020. „Die praktisch zur Staatsräson erhobene Ausländerfreundlichkeit und Offenheit“, so der Soziologe, „sind somit genauso wie das Ausreizen von verbleibenden Souveränitätsnischen eine der Grundlagen des nationalen Geschäftsmodells.“
Ein Blick auf die Schattenseite der nach Fehlens Worten „Multikulti-Inklusions-Fassade“ bietet die vom Familien- und Integrationsministerium in Auftrag gegebene Studie „Le racisme et les discriminations ethno-raciales au Luxembourg“, durchgeführt von Liser, das eine quantitative Erhebung machte, und Cefis, das für eine qualitative Umfrage 139 Fachleute und Akteure aus 67 privaten und öffentlichen Strukturen über deren Wahrnehmung von Rassismus befragte. Der Bericht, der sich mit den wichtigsten Bereichen des sozialen Lebens der Einwohner Luxemburgs befasst, spiegele „die Realität des Zusammenlebens und der Integration in der de facto multikulturellen Gesellschaft Luxemburgs wider“, heißt es. Außerdem schlägt er „konkrete Wege zur Verbesserung der Situation vor und liefert reichhaltiges und tiefgründiges Material für Überlegungen und Maßnahmen“.
Laut der Rassismus-Studie, an der sowohl luxemburgische Staatsbürger als auch EU- und Nicht-EU-Bürger teilnahmen, waren 4,3 Prozent der Befragten der Überzeugung, dass es Menschenrassen gebe und es eine Hierarchie unter diesen geben würde, dass also eine Rasse den anderen überlegen sei. In einer ähnlichen Studie in Frankreich lag diese Quote übrigens mehr als doppelt so hoch, merkt Michel Tenikue an. In Luxemburg wiederum liegt der Anteil derer, die rassistische Reaktionen in einigen Fällen für gerechtfertigt halten, bei 15,2 Prozent – in Frankreich war diese Quote rund dreimal so hoch.
Die Expertenbefragung bestätigte, dass bestimmte Stereotypen nach wie vor fest verankert sind. Dies entspricht in etwa der Online-Befragung der Einwohner, von denen 46 Prozent angaben, dass bestimmte ethnische Gruppen die Interaktion mit anderen Gruppen meiden, zuvorderst Muslime und Roma. Etwa ein Drittel der Umfrageteilnehmer macht bestimmte Gruppen für den Anstieg von Gewalt und Kriminalität verantwortlich. Dieses Vorurteil ist vor allem auf Roma und Muslime sowie People of Color (PoC) und Portugiesen bezogen.
Was außerdem auffällt: Obwohl es hierzulande seit November 2006 ein Gleichbehandlungsgesetz gibt, nach dem Rassismus und Diskriminierung aufgrund ethnischer Herkunft strafbar sind, machen nur wenige Betroffene davon Gebrauch: Nur zwei Drittel der Studienteilnehmer, die Opfer von Rassismus wurden, meldeten die Vorfälle. Manche hielten es nicht für nötig oder für zu geringfügig, andere fühlten sich nicht genügend informiert oder bezeichneten die Prozeduren als zu komplex. Aus den Ergebnissen der Studie wurden schließlich Handlungsempfehlungen an die Politik in den Bereichen Arbeit, Wohnen und Schule entwickelt. Die allgemeine Konsequenz: einerseits schärfere Sanktionen, andererseits mehr Aufklärung, Sensibilisierung und Weiterbildung. Opfer sollen besser begleitet, das „Centre pour l’égalité de traitement“ (CET) verstärkt werden und Gemeindebeamte sollen über „diversité et non-discrimination“ im Umgang mit Risikogruppen geschult werden. Auch würde an Unternehmen herangetreten und Immobilienagenturen dazu angehalten, Diskriminierungsversuche durch Hauseigentümer zu unterbinden.

Mückenstiche namens 
Mikroaggressionen

Es könne durchaus sein, dass man tagsüber gegen Rassismus demonstriert – und trotzdem Angst bekomme, wenn ein Schwarzer Mann einem nachts über den Weg läuft, „oder dass man kurz überrascht ist, wenn eine Frau mit Hijab perfekt Deutsch spricht“, schreibt die deutsche Journalistin Alice Hasters in einem Essay über den Alltagsrassismus. Dieser bestehe oftmals aus „kleinen Momenten“, die wie „Mückenstiche“ wirken: „Kaum sichtbar, im Einzelnen auszuhalten, doch in schierer Summe wird der Schmerz unerträglich. Diese Mückenstiche haben einen Namen: Mikroaggressionen.“
Der Autor und Migrationsforscher Mark Terkessidis spricht von der „Banalität des Rassismus“, der eben nicht nur aus Gewalt und Rechtsextremismus bestehe, sondern schon bei der ständigen Frage beginnen kann: „Woher kommst du?“ Auch Ignoranz sei eine Mikroaggression, so Alice Hasters. „Nur, weil man sich nie bewusst Gedanken über Herkunft, Hautfarbe und Identität gemacht hat, läuft man nicht vorurteilsfrei durch die Gegend. Man bemerkt nur nicht, dass man diese Vorurteile hat.“ Gleichgültigkeit unterstütze den Rassismus, sagte einmal der Psychologe Gilbert Pregno und erklärt: „Ein Rassist und zehn Menschen, die nichts sagen – das sind elf Rassisten.“
Nelson Neves, Luxemburger mit kapverdischen Wurzeln
Die Aktivistin Antonia Ganeto von Finkapé
Demonstration vor der US-Botschaft in Luxemburg am 5. Juni 2020
In Erinnerung an die Worte von George Floyd