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Der Bessermacher

Besuch in Flandern bei Bart Somers, dem besten Bürgermeister der Welt

Süddeutsche Zeitung 1. Juli 2021

(In Flandern :vom Bürgermeister zum Integrationsminister, in Luxemburg demnächst laut bt in Letzebuerger Land andersrum? s.k)

 

Der Thalys von Paris nach Brüssel hat Verspätung, also direkt vom Zug zum Innenministerium von Flandern. Die Chefprotokollantin gibt einem fein aber doch eindeutig zu verstehen, dass kurze Hosen, T-Shirt und vor allem dieser Rucksack eher kein ministeriumskompatibler Look sind. Bart Somers aber ist das schnurz. Interrail! Gibt’s das noch? Was war das schön, damals als Schüler! „In den spanischen Dünen wurde uns das Gepäck geklaut. Wir hatten nur noch Pass und Ticket. Also heimfahren in Badehose, neu packen und sofort weiter, bis an den Polarkreis. Am liebsten würd ich nachher mit Ihnen mitkommen. Vor allem weil einen unterwegs niemand erkennt.“

Der 57-jährige Bart Somers ist in Belgien weltberühmt. Weil er ein politisches Wunder geschafft hat. Und weil sie jetzt in ganz Flandern hoffen, dass er in großem Maßstab wiederholen kann, was ihm im kleinen Mechelen gelungen ist.

Mechelen galt um die Jahrtausendwende als dreckigste Stadt Belgiens. 80 000 Einwohner aus 138 Nationen. Drogenkriminalität, bankrotte Geschäfte, die Mittelschicht floh aus der Stadt. Am Tag nach dem Ministeriumsbesuch wird die Vizebürgermeisterin Gabriella de Francesco beim Gang durchs Zentrum von Mechelen sagen, sie habe sich damals abends nicht rausgetraut. „Aber heute“ – und dabei zeigt sie auf die schicken Shops und einige der prächtig restaurierten Renaissancehäuser –, heute sei das hier „nachts so sicher wie auf dem Dorf“.

Somers wurde 2000 Bürgermeister der Stadt. Damals wählten 32 Prozent den rechtsextremen Vlaams Belang. 16 Jahre später schaffte Mechelen es im Ranking „European Cities of the Future“ unter die Top Ten der europäischen Kleinstädte. Der Vlaams Belang kam noch auf neun Prozent. Somers wurde im selben Jahr beim World Mayor Prize zum besten Bürgermeister der Welt gewählt. Wie geht so was?

Somers hat eine vielleicht einmalige Mischung aus Law and Order und sorgsamer Integrationspolitik verfolgt, die gegen Diskriminierung genauso konsequent vorgeht wie gegen Gewalt und Extremismus. Erst mal wurden die Polizeikräfte verstärkt und viele Kameras im öffentlichen Raum angebracht. „Jeder muss sich erst mal sicher fühlen in seiner eigenen Stadt“, sagt Somers.

Er hat aber gleichzeitig auf allen Ebenen versucht, „ein Gemeinschaftsgefühl“ zu erzeugen. Schon beim Hinschreiben des Wortes wird einem ja schlecht. Nur Authentizität ist noch abgenudelter. Also lieber Beispiele als Politphrasen. „Sie wollen Beispiele?“ Somers wirkt hinter dem Schreibtisch wie eine festgespannte Feder, die jetzt nur noch, klick, losgelassen werden muss: „Es gab nur Ghettoschulen. Wir wussten, wir müssen das mischen. Alle so: Unmöglich.“ Er fuchtelt mit den Händen, als müsse er panisch einen Schwarm Fliegen vertreiben. „Geht nicht. Träum weiter.“

Somers’ Leute haben alle weißen Eltern, deren Kinder in die Schule kamen, zu eigenen Abenden eingeladen, auf denen sie ihnen sagten: Euer Kind soll kein soziales Experiment für vage Multikultiträumereien sein. Wir garantieren euch, dass wir die Qualität eurer Sprengelschule verbessern, es wird dort ab sofort genau dieselben Museumsbesuche, Schulreisen, Intensivkurse geben wie an anderen Schulen auch. Und wenn ihr das macht und euer Nachbar ebenfalls, dann sind eure Kinder auch nicht allein, sondern zu viert oder fünft.“

Sie haben auf die Art zehn segregierte Schulen aufgebrochen, 350 Eltern haben sich im ersten Jahr überzeugen lassen, ihr Kind auf die „Ghettoschule“ zu schicken, die dadurch plötzlich keine mehr war. Aber, und jetzt kommt für Somers der Clou, „weiße Schulen sind ja auch segregiert“. Weshalb sie in den besseren Vierteln bei allen Migrantenfamilien geklingelt haben, um sie zu überzeugen, ihre Kinder auf diese bis dahin rein weißen Schulen zu schicken. „Wenn eure Nachbarn das auch machen, wird euer Kind nicht allein unter Weißen sein. Wir garantieren euch, dass sie nicht diskriminiert werden.“ Es hat funktioniert.

Belgien hat ein riesiges Islamismus-Problem. Allein aus Brüssel sind über 200 Menschen für den sogenannten Islamischen Staat in den Nahen Osten gezogen. Rund 100 aus Antwerpen. Aus Mechelen kein einziger.

Es gibt nicht das eine Zauberprojekt, das aus einem düsteren Problemknoten eine lebenswerte Stadt macht, aber es gibt viele weitere Initiativen, die Mechelen haben zusammenwachsen lassen: interkulturelle Tandems, bei denen jeder Neuankömmling einen Altmechelener zugewiesen bekommt. Die beiden verpflichten sich dazu, einander 40-mal zu treffen, eine Art Crashkurs, wo gibt’s gute Kindergärten, wo geh’ ich einkaufen. Dazu ist es eine Intensivschulung in Flämisch und eine Lebensfreundschaftsbörse. Die Universität von Leuwen begleitet das Projekt und stellte fest, dass sich die Chancen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt für die Teilnehmer verdoppelten.

Drittes Beispiel: 50 Berufsanfängern aus sozialen Berufen wurden Sozialwohnungen überlassen, für die sie mit ihrem Einkommen keine Berechtigung gehabt hätten. Für die jungen Leute ist das attraktiv, weil sie kaum Miete zahlen. Für die Stadt aber ist es noch viel attraktiver, weil sich diese Sozialprofis dazu verpflichten, sich über drei Jahre lang zehn Stunden wöchentlich in ihrer Nachbarschaft zu engagieren.

All das hat so gut funktioniert, dass Somers jetzt in seiner neuen Funktion als Minister für innere Angelegenheiten, Integration und Chancengleichheit sein Modell in allen umliegenden Städten Flanderns implementieren soll.

Da er aber beides so gut kennt, die Arbeit als Minister wie auch die als Bürgermeister, noch eine Frage zum Verhältnis von Städten und Landesregierungen. 2016, da war er gerade frisch zum „World Mayor“ gewählt, sagte er etwas vollmundig, nationale Politiker seien vor allem mit Ideologie beschäftigt und damit, einander möglichst eindrucksvoll zu widersprechen, während Kommunalpolitiker pragmatischer, lösungsorientierter arbeiten würden. Jetzt, da er als Minister beide Seiten kennt, würde er das doch sicher korrigieren, oder?

„Im Gegenteil. Ich würde das noch emphatischer vertreten. Gebt den Städten mehr Macht. Die Kommunen sind am besten gerüstet für die Herausforderungen der Zukunft.“

Hmm. Vielleicht noch mal ein Beispiel? Die Feder springt sofort wieder los: „Paris schreibt 40 Prozent Emissionsminderung bis 2030 vor. Die flämische Regierung sagte, mehr als 32 Prozent kriegen wir nicht hin. Also haben wir alle 300 Städte zusammengebracht. Jede einzelne hat sich zu 40 Prozent Reduktion verpflichtet. Jede Stadt pflanzt bis 2030 für jeden Bürger einen Baum, baut einen Meter Radweg pro Bewohner und reduziert pro Bürger die bebaute Fläche um einen Quadratmeter.“

Letzte Frage an den Problemlöser: Wie geht man mit Populisten um? „Oh, das ist einfach. Es geht vielen Menschen wirklich schlecht. Frag die Armen, was sie brauchen, statt ihnen zu sagen, was sie zu tun haben. Aber nie, hören Sie, niemals auch nur einen Meter mit den Populisten gehen. Dann verkaufst du deine Seele an den Teufel.“ Alex Rühle