Was es mit uns macht, was wir mit ihnen ma­chen

Bernd UL­RICH  Die Zeit 18. Juli 2018
Was es mit uns macht, was wir mit ihnen ma­chen

Die Flücht­lin­ge in Ge­fahr, die EU im Fes­tungs­kol­ler – 15 The­sen zur Wende in der Asyl­de­bat­te

Die­sen Som­mer ist etwas ge­kippt in der Flücht­lings­po­li­tik und in der Art, wie dar­über ge­re­det wird. Um diese Wende zu ver­ste­hen, muss man zu­nächst zu­rück­ge­hen zu dem Punkt, an dem alles an­fing.

Genau vier Mo­na­te dau­er­te die volle links­li­be­ra­le He­ge­mo­nie in der Flücht­lings­po­li­tik, vom 4. Sep­tem­ber 2015, als An­ge­la Mer­kel die Gren­zen offen ließ, bis zum 3. Ja­nu­ar 2016, als die Er­eig­nis­se der Köl­ner Sil­ves­ter­nacht pu­blik wur­den. Da­mals waren ne­ga­ti­ve Nach­rich­ten über Flücht­lin­ge un­er­wünscht, und Geg­ner von Mer­kels Flücht­lings­po­li­tik setz­ten sich po­li­ti­schen Ver­däch­ti­gun­gen aus. Es galt noch der Pres­se­ko­dex, nach dem bei Ge­walt­ta­ten der eth­ni­sche Hin­ter­grund des mut­maß­li­chen Tä­ters nicht sehr her­vor­ge­ho­ben wurde; – kaum je­mand wird sich noch daran er­in­nern, aber die Pres­se mach­te sich da­mals tat­säch­lich Sor­gen, es könn­ten Vor­ur­tei­le gegen Min­der­hei­ten ge­schürt wer­den.

Seit dem 4. Ja­nu­ar 2016, also seit nun­mehr 31 Mo­na­ten, geht alles in die ent­ge­gen­ge­setz­te Rich­tung. Po­si­ti­ve Nach­rich­ten über Flücht­lin­ge sind un­er­wünscht, Ge­walt­ta­ten fin­den be­son­ders dann öf­fent­li­che Be­ach­tung, wenn sie einen mus­li­mi­schen Hin­ter­grund haben.

Ja, etwas hat sich ge­dreht.

Die­ser Juni 2018 brach­te eine Asyl­wen­de, je­doch we­ni­ger wegen Horst See­ho­fer; es war der Brüs­se­ler Asyl­gip­fel vom 24. Juni, der Ent­schei­den­des än­der­te: Unter dem Druck der Ost­eu­ro­pä­er, aber auch von Ös­ter­reich und Ita­li­en, in denen nun rechts­na­tio­na­le Par­tei­en mit­re­gie­ren, plä­dier­ten die Teil­neh­mer für ge­schlos­se­ne Asyl­zen­tren und eine Ab­rie­ge­lung der Au­ßen­gren­zen. Damit hat die EU einen gro­ßen Schritt in Rich­tung Ab­schot­tung ge­macht. War in jenen vier Mo­na­ten von 2015 Hu­ma­ni­tät wich­ti­ger als Kon­trol­le, so ver­hält es sich heute um­ge­kehrt. Viele sehen in einer »Fes­tung Eu­ro­pa« keine Ge­fahr mehr, son­dern ein Ziel, auch Mar­kus Söder.

Der He­ge­mo­nie­wech­sel ist voll­zo­gen, bei der Flücht­lings­po­li­tik gibt es einen neuen Main­stream, er reicht von der po­li­ti­schen Mitte bis wei­ter rechts davon. Die­ser Wech­sel hat weit­rei­chen­de Kon­se­quen­zen, nicht nur für jene, die hier­her flie­hen wol­len, son­dern auch für Eu­ro­pa.

Zu­nächst ein­mal kön­nen De­fi­zi­te der Flücht­lings­po­li­tik – fa­ta­le Ab­schie­bun­gen, il­le­ga­le Mi­gra­ti­on, feh­len­de So­li­da­ri­tät in Eu­ro­pa und der­glei­chen – künf­tig nicht län­ger einer li­be­ra­len Po­li­tik in die Schu­he ge­scho­ben wer­den. Viel­mehr sind sie Folge der in­ne­ren Wi­der­sprü­che einer ri­go­ro­sen Po­li­tik. Das gilt jetzt schon für die Feh­ler bei der Ab­schie­bung wie für die Schwie­rig­kei­ten bei der Rea­li­sie­rung des Lieb­lings­pro­jekts har­ter Flücht­lings­po­li­tik, der Ein­rich­tung von Asyl­zen­tren in Nord­afri­ka. Auch eine harte Ge­sin­nung schützt nicht vor Ge­sin­nungs­ethik.

Zudem soll­ten die Ver­tre­ter des ri­go­ro­sen, sie selbst wür­den sagen: kon­se­quen­te­ren Main­streams in Eu­ro­pa nicht län­ger so tun, als wür­den sie immer noch tap­fer gegen eine linke oder li­be­ra­le Dis­kurs­mehr­heit an­kämp­fen. Man kann nicht gleich­zei­tig die Won­nen der De­bat­ten­ho­heit und den Kit­zel der Re­bel­li­on ge­nie­ßen.

Schließ­lich stellt der He­ge­mo­nie­wech­sel eine Nie­der­la­ge für eine li­be­ra­le­re oder ak­zep­tie­ren­de­re Flücht­lings­po­li­tik dar, deren Trost im­mer­hin darin liegt, dass so halt De­mo­kra­tie funk­tio­niert: Mal sind die einen vorn, mal die an­de­ren. Die­ser schril­le Som­mer der um­ge­kehr­ten Vor­zei­chen zeigt aber auch, dass die Ge­sell­schaft heute nicht we­ni­ger ge­spal­ten ist als vor drei Jah­ren, son­dern nur an­ders.

Dar­aus er­ge­ben sich zwei Fra­gen: Gibt es noch einen Mi­ni­mal­kon­sens in der Flücht­lings­po­li­tik? Und: Wo soll das alles enden? Denn viele wol­len an­schei­nend die Fes­tung Eu­ro­pa, mit nur noch klei­nen Dienst­bo­tenein­gän­gen fürs Hu­ma­ni­tä­re.

Und so wie in jenen vier Mo­na­ten 2015 die Frage ge­stellt wurde, ob eine Po­li­tik der vor­erst of­fe­nen Gren­zen nicht naiv sei, so muss man heute über die Nai­vi­tät des ri­go­ro­sen Kur­ses spre­chen. Sei­ner­zeit wurde be­haup­tet, die freund­li­che Flücht­lings­po­li­tik löse eine un­kon­trol­lier­ba­re Dy­na­mik aus; das gilt al­ler­dings auch für den ri­go­ro­sen Kurs. Die Her­ren der Ab­schot­tung sind nicht Her­ren über die Dy­na­mik ihrer ei­ge­nen Po­li­tik. Eben­so wurde 2015 davor ge­warnt, Eu­ro­pa ver­än­de­re sich durch den Zu­strom in sei­nem Wesen. Um­ge­kehrt gilt das auch: Eine Fes­tung er­spart Eu­ro­pa Ver­än­de­rung kei­nes­wegs, im Ge­gen­teil: Mau­ern brau­chen eine Mau­er-Men­ta­li­tät, das Leben in der Fes­tung endet im Fes­tungs­kol­ler.

Was also macht es mit uns, was wir mit ihnen ma­chen? Im Fol­gen­den soll in 15 Punk­ten nach­ge­zeich­net wer­den, wel­che der selbst­ver­ständ­lich be­nutz­ten Ar­gu­men­te in die Logik der Fes­tung füh­ren, wie weit wir auf die­sem Weg schon sind und wie ein Mi­ni­mal­kon­sens aus­se­hen könn­te.

1. Flücht­lin­ge

Wie die Po­li­tik, so hat sich auch das Wort ne­ga­tiv auf­ge­la­den: Flücht­ling, das wird as­so­zi­iert mit il­le­gal und na­tür­lich mit: zu viel. Tat­säch­lich han­delt es sich bei Flücht­lin­gen ganz über­wie­gend ein­fach um Men­schen in Not, selbst dann, wenn diese Not wirt­schaft­li­chen Ur­sprungs ist. Auch ein Wirt­schafts­flücht­ling ver­spürt Not, sonst würde er die­sen ge­fähr­li­chen, schwe­ren Weg nicht gehen und die Hei­mat hin­ter sich las­sen. Ja, eine Ge­sell­schaft darf auf­tei­len zwi­schen le­ga­ler und il­le­ga­ler Flucht. Den­noch muss gel­ten: Was recht­lich il­le­gal ist, kann den­noch mensch­lich le­gi­tim sein. Und ist es auch meis­tens.

2. Wir müs­sen un­se­re Gren­zen schüt­zen

Sogar die Kanz­le­rin spricht jetzt davon, Eu­ro­pas Gren­zen müss­ten bes­ser ge­schützt wer­den. Das stimmt, man weiß ja nie, was Putin vor­hat. Nur vor Flücht­lin­gen müs­sen die Gren­zen nicht ge­schützt wer­den, weil sie diese nicht an­grei­fen, Grenz­kon­trol­le ist nötig, reicht aber auch. Kürz­lich wurde in Ös­ter­reich eine »Grenz­schutz­übung« durch­ge­führt, dabei kam sogar ein Kampf­hub­schrau­ber zum Ein­satz. Damit wer­den die Men­schen in Not zu In­va­so­ren um­ge­deu­tet, gegen die sich Eu­ro­pa weh­ren darf, ja muss. Plötz­lich sind also wir diese Men­schen in Not – Ver­dre­hung der Wirk­lich­keit, Um­wer­tung der Werte, Nietz­sche lacht in sei­nem Grab.

3. Pri­va­te See­notret­ter sind schuld am Rechts­ruck

Die­ses Ar­gu­ment be­wegt sich am Rande des Zy­nis­mus, so­lan­ge staat­li­che See­notret­tung ge­wollt lü­cken­haft ist. Wie so oft in der Flücht­lings­de­bat­te trägt diese Be­haup­tung eine noch ge­fähr­li­che­re Logik in sich, weil der Rechts­ruck als quasi na­tür­li­che Re­ak­ti­on auf schlecht kon­trol­lier­ten Zu­strom dar­ge­stellt wird. Ge­wis­ser­ma­ßen al­ter­na­tiv­los. Dabei könn­ten die Eu­ro­pä­er auch Par­tei­en wäh­len, die mehr in die In­te­gra­ti­on oder die Hilfe vor Ort in­ves­tie­ren möch­ten. Man kann hin­neh­men, dass Mehr­hei­ten eine ri­go­ro­se Flücht­lings­po­li­tik be­schlie­ßen – aber nicht, dass es sich dabei um keine Ent­schei­dung han­delt, son­dern um einen Re­flex. Die neuen Mehr­hei­ten be­we­gen sich kei­nes­wegs in einem mo­ral­frei­en Raum.

4. In­te­gra­ti­on ist eine Bring­schuld

Das stimmt so nicht, denn na­tür­lich kann In­te­gra­ti­on nur als Geben und Neh­men ge­lin­gen, als ein Wech­sel­spiel von Bring­schuld und Hol­schuld. Tat­säch­lich sagt der Satz we­ni­ger über In­te­gra­ti­on aus als über Schuld, er dient als Vor­ne­ver­tei­di­gung gegen die Idee, dass die Asyl ge­wäh­ren­den Ge­sell­schaf­ten ir­gend­et­was mit den Ur­sa­chen von Flucht zu tun haben könn­ten und etwas gut­zu­ma­chen hät­ten. Nie­mand wird die Ei­gen­ver­ant­wor­tung afri­ka­ni­scher und ara­bi­scher Staa­ten leug­nen. Un­se­re Mit­schuld kann aber auch nicht igno­riert wer­den, es sei denn um den Preis des Rea­li­täts­ver­lusts.

5. Be­kämp­fung der Flucht­ur­sa­chen

Auch diese gut ge­mein­te For­mu­lie­rung ver­drängt etwas We­sent­li­ches. Denn meis­tens würde es schon ge­nü­gen, wenn die Eu­ro­pä­er, auch Deutsch­land, auf­hö­ren wür­den, Flucht­ur­sa­chen zu sein, etwa mit ihrer Land­wirt­schafts- und Fi­sche­rei­po­li­tik. Das ist im Üb­ri­gen auch leich­ter, als nur Flucht­ur­sa­chen vor Ort zu be­kämp­fen. Flucht­ur­sa­chen be­kämp­fen be­deu­tet in Wahr­heit oft: Wir mei­nen es gut, aber die Auf­ga­be ist so gi­gan­tisch, dass wir an ihr je­der­zeit schei­tern dür­fen.

6. Die fi­na­le Lö­sung der Flücht­lings­fra­ge

Die For­mu­lie­rung stammt vom CSU-Po­li­ti­ker Man­fred Weber, der dafür ge­schol­ten wurde, weil sie un­gu­te his­to­ri­sche As­so­zia­tio­nen weckt. Doch wirkt etwas an­de­res viel bri­san­ter. Denn die Vor­stel­lung, dass ein Pro­blem die­ser Grö­ßen­ord­nung final lös­bar sein könn­te, ist völ­lig ir­re­al. Mit Blick auf Wohl­stand, Frei­heit und Si­cher­heit sind die Ver­hält­nis­se zwi­schen Eu­ro­pa und sei­nem süd­li­chen Nach­bar­kon­ti­nent der­art un­gleich, dass die­ses Mensch­heits­pro­blem in einer immer enger zu­sam­men­rü­cken­den Welt al­len­falls leid­lich ge­re­gelt, aber ab­seh­bar nicht ge­löst wer­den kann. An­de­re Er­war­tun­gen an die Po­li­tik zu schü­ren zieht nur Po­pu­lis­mus und Vol­un­ta­ris­mus nach sich. Man macht so die Flücht­lings­po­li­tik zu einer Po­li­tik sui ge­ne­ris, zum ein­zi­gen kom­plett lös­ba­ren Groß­pro­blem, an­ders etwa als: Klima, Steu­er­hin­ter­zie­hung, Krieg und Frie­den, Ar­beits­lo­sig­keit.

7. An der Asyl­fra­ge ent­schei­det sich die Zu­kunft des Lan­des

Dass Flücht­lin­ge von Tei­len der Bun­des­re­gie­rung als das Pro­blem be­han­delt wer­den, zeigt sich in einer wei­te­ren Ab­nor­mi­tät: Fort­schrit­te wer­den we­ni­ger be­tont als noch ver­blie­be­ne De­fi­zi­te, was für Re­gie­rungs­po­li­tik ganz un­ty­pisch ist. Kom­men we­ni­ger Flücht­lin­ge, wird ein­fach eine grö­ße­re Lupe zur Hand ge­nom­men, re­le­vant ist nicht mehr, was ge­schieht, son­dern was als Ge­sche­hen emp­fun­den wird. In Ös­ter­reich ist man schon wei­ter und schiebt bei­na­he jedes Pro­blem der Ge­sell­schaft auf die Flücht­lin­ge, von der Ren­ten­po­li­tik bis zur Woh­nungs­po­li­tik. Da­durch ent­steht ein Furor, der durch keine Maß­nah­me mehr zu dämp­fen ist, und ein Schieß­schar­ten-Blick auf alle an­de­ren The­men. Die Flücht­lings­po­li­tik ver­liert dabei den Cha­rak­ter eines Pro­blems, das einer Lö­sung harrt, und mu­tiert zu einer po­li­ti­schen Kul­tur, zu einer Art und Weise, wie die Ge­sell­schaft mit sich selbst spricht, kurz­um: zu ihrem Me­di­um.

8. Ohne sie wäre alles bes­ser

Zur Be­ur­tei­lung der Flücht­lings­po­li­tik wird oft ein ima­gi­nä­rer mi­gra­ti­ons­lo­ser Zu­stand zum Kri­te­ri­um er­ho­ben. Dem­zu­fol­ge ist jedes Ver­bre­chen, das von Mi­gran­ten be­gan­gen wird, eines zu viel, weil es ja ohne sie nicht pas­siert wäre. Nicht-Stö­ren­des oder gar Wun­der­vol­les wird als Selbst­ver­ständ­lich­keit ge­se­hen oder ganz ver­schwie­gen, De­struk­ti­ves hin­ge­gen zum ab­so­lu­ten Skan­dal. Rea­lis­ti­sche Ver­glei­che etwa mit der Ein­wan­de­rung in die USA oder der In­te­gra­ti­on von Ver­trie­be­nen in Deutsch­land, die auch zu­nächst ein An­schwel­len vie­ler Pro­ble­me mit sich brach­ten, wer­den ver­mie­den. Statt Best Prac­tice fir­miert in der Öf­fent­lich­keit vor­zugs­wei­se der Worst Case. So kann man nicht ler­nen, son­dern nur end­los mo­ra­li­sie­ren.

9. Sie sind un­dank­bar

In der Wut auf die Flücht­lin­ge schwingt eine tiefe Krän­kung mit und eine fun­da­men­ta­le Angst. Die Krän­kung be­steht darin, dass das ka­ri­ta­ti­ve Prin­zip nicht mehr rich­tig funk­tio­niert. St. Mar­tin ris­kiert heute, wenn er sei­nen Man­tel teilt, die Frage: Und was ist mit dem Pferd? Oder: Warum bist du ei­gent­lich reich und ich nicht? Zu die­sem ge­fühl­ten Man­gel an Dank­bar­keit ge­sellt sich eine Ur­angst der Eu­ro­pä­er: die Furcht vor Ver­gel­tung. Wenn sie uns nur die Hälf­te von dem antun, was wir ihnen an­ge­tan haben, dann gute Nacht. Diese Angst ließe sich ban­nen, wäre man offen für eine Dis­kus­si­on über Ko­lo­nia­lis­mus und wo­mög­lich Ka­pi­ta­lis­mus sowie über den Ex­port teu­rer Waf­fen und bil­li­ger To­ma­ten nach Afri­ka.

10. Die da

Die of­fi­zi­el­le Sprech­hal­tung ge­gen­über Flücht­lin­gen ist fast nur noch mit dem Rü­cken zu ihnen. Mit ihnen wird le­dig­lich auf dem Wege be­hörd­li­cher Maß­nah­men und öf­fent­li­cher Er­mah­nun­gen kom­mu­ni­ziert. Dass diese Men­schen mit­hö­ren und über kurz oder lang auch mit­re­den wer­den, wird auf diese Weise angst­voll ver­leug­net. Die Angst mag über­trie­ben sein, doch eines ist klar: Ir­gend­wann wer­den hier sess­haf­te, ehe­ma­li­ge Flücht­lin­ge die­ser Ge­sell­schaft sagen, was es mit ihnen ge­macht hat, so von oben herab adres­siert wor­den zu sein. Es wäre bes­ser, die Flücht­lin­ge jetzt schon ins Wir ein­zu­schlie­ßen.

11. Pull- Fak­to­ren

Das ist ein tech­ni­scher Be­griff für: Eu­ro­pa ist freund­lich, frei, at­trak­tiv. Wer alle Pull-Fak­to­ren be­sei­ti­gen will, muss die EU zu einem ab­schre­cken­den Ge­bil­de ma­chen – und zwar für Men­schen, die in Sy­ri­en vor dem Nichts ste­hen oder in Eri­trea unter der Drang­sal eines Le­bens in Armut leben. Und auch hier lau­ert hin­ter dem Fal­schen das Schlim­me. Denn Pull-Fak­to­ren zu be­sei­ti­gen be­deu­tet, Men­schen, die es bis nach Eu­ro­pa ge­schafft haben, mög­lichst so zu be­han­deln, dass ihre Brü­der, Schwes­tern und Kin­der in der Hei­mat keine Lust ver­spü­ren, die Reise nach Eu­ro­pa an­zu­tre­ten. Das heißt aber in vie­len Fäl­len, dass Ab­schre­ckung und In­te­gra­ti­on an den­sel­ben Per­so­nen ver­übt wer­den. Sol­cher­lei kann nicht funk­tio­nie­ren und führt zu genau dem des­in­te­gra­ti­ven Ver­hal­ten von Flücht­lin­gen, das dann viele nach noch mehr Härte rufen lässt. Der Teu­fels­kreis ist er­öff­net.

12. Mer­kel hat die Gren­zen ge­öff­net

Man kann die bei­den flücht­lings­po­li­ti­schen Lager daran er­ken­nen, wie sie die Ent­schei­dung der Kanz­le­rin vom 3. Sep­tem­ber 2015 be­zeich­nen – als »Gren­zen öff­nen« oder als »Gren­zen offen hal­ten«. Vor­der­grün­dig zeigt das, wie po­la­ri­siert die De­bat­te immer noch ist. Da­hin­ter steckt je­doch ein bei­na­he mys­ti­sches Pro­blem, das mit Magie ge­löst wer­den soll (aber gänz­lich un­ge­eig­net für de­mo­kra­ti­sche Ge­sell­schaf­ten ist). Denn die Flücht­lings­de­bat­te be­zieht sich in die­ser Sicht we­ni­ger auf Ge­gen­wart oder Zu­kunft als auf einen ver­meint­li­chen Sün­den­fall in der Ver­gan­gen­heit, den man etwa durch Voo­doo an den Flücht­lin­gen oder durch Aus­trei­bung der Kanz­le­rin zum Ver­schwin­den brin­gen will. Ein Kult ist ent­stan­den.

13. Die Deut­schen haben wegen ihrer Ver­gan­gen­heit ein schlech­tes Ge­wis­sen

Das Ar­gu­ment, Deutsch­land soll­te wegen Ausch­witz groß­zü­gig Flücht­lin­ge auf­neh­men, brin­gen fast nur noch jene auf, die es so­dann als mo­ra­li­sche Zu­mu­tung brüsk zu­rück­wei­sen. Deutsch­land ist eines der reichs­ten Län­der die­ser Erde, eine er­folg­rei­che Ex­port­na­ti­on und ver­sucht, zi­vi­li­siert und wer­te­ge­bun­den sei­nen Platz in der Mitte Eu­ro­pas aus­zu­ge­stal­ten. Man braucht keine Se­kun­de Ver­gan­gen­heit, um eine hu­ma­ne und zu­gleich rea­lis­ti­sche Flücht­lings­po­li­tik zu be­grün­den, die Zu­kunft reicht völ­lig.

14. Wir kön­nen nicht alle auf­neh­men

Müs­sen wir auch nicht, weil nicht alle zu uns kom­men wol­len und wer­den, au­ßer­dem han­delt es sich bei dem Satz um eine Binse. Sein Zweck liegt denn auch auf einer an­de­ren Ebene: Er rich­tet sich gegen jene, die die For­de­rung nach of­fe­nen Gren­zen er­he­ben. Hier­bei han­delt es sich je­doch um eine po­li­tisch mar­gi­na­li­sier­te Min­der­heit. Dass der Satz den­noch immer wie­der ge­sagt wird, dient dazu, eine immer ri­go­ro­se­re Flücht­lings­po­li­tik als le­gi­ti­me Zu­rück­wei­sung eines mons­trö­sen mo­ra­li­schen An­spruchs zu sti­li­sie­ren.

15. Man muss kühl drauf­bli­cken

Die In­sas­sen einer Fes­tung ent­wi­ckeln Ge­dan­ken und trai­nie­ren Ge­füh­le, die zu den Mau­ern pas­sen. Vor allem ver­su­chen sie sich, von Tra­gö­die, Schuld und Mit­leid zu be­frei­en, sie wer­den iden­tisch mit ihren Mau­ern. See­ho­fers Non­cha­lance bei den 69 Ab­schie­bun­gen zu sei­nem 69. Ge­burts­tag zeigt, wie weit die­ses Nicht­füh­len schon kul­ti­viert ist. Ge­wiss kann man sich mo­ra­li­sche Kälte an­trai­nie­ren. Doch wer das tut, soll­te sich nicht wun­dern, wenn er den Em­pa­thie-Schal­ter auch dann nicht mehr fin­det, wenn Mit­ge­fühl ge­braucht wird. Es ist schwer, die So­li­da­ri­tät nach drau­ßen auf nahe null zu fah­ren und sie zu­gleich im In­ne­ren hoch­zu­hal­ten. Auch in Deutsch­land kann man am fal­schen Ort ge­bo­ren sein. Ja, die Mehr­heit kann be­schlie­ßen, ri­go­ros ab­zu­schie­ben oder sich ab­zu­schot­ten. Sie kann aber keine Em­pa­thie-Ver­bo­te er­tei­len. Im Ge­gen­teil, mo­ra­li­scher Schmerz müss­te der Mi­ni­mal­kon­sens sein, der diese Ge­sell­schaft in der Flücht­lings­po­li­tik eint. Kurz­um, ver­ehr­te Ver­tre­te­rin­nen und Ver­tre­ter des neuen Main­streams, denkt daran: Wenn wir uns über den Schmerz nicht mehr ei­ni­gen kön­nen, dann kön­nen wir uns über nichts mehr ei­ni­gen.

Und nicht ver­ges­sen: Mal sind die einen vorn, mal die an­de­ren. Und dann wie­der die einen.