„Seenotretter“ sind keine Komplizen der Schlepper
Nach einem jahrelangen Mammutprozess sind drei private Hilfs-Organisationen freigesprochen worden. Gegen Italien erheben sie schwere Vorwürfe.
Luxemburger Wort 22 April 2024
Der italienische Staat hatte weder Mühe noch Kosten gescheut, die privaten Retter zu kriminalisieren: Während des sieben Jahre dauernden Verfahrens gegen die NGOs „Ärzte ohne Grenzen“, „Save the Children“ und „Jugend Rettet“ und gegen 21 ihrer Mitarbeiter hatte die Staatsanwaltschaft 50.000 Stunden Telefongespräche abgehört, zehntausende Mails durchforstet, hunderte Stunden Videoaufnahmen von Rettungsaktionen gesichtet, verdeckte Ermittler eingesetzt und unzählige Zeugen befragt, darunter auch in- und ausländische Geheimagenten.
Resultat: Gegen die humanitären Organisationen konnte kein einziger Beweis erhoben werden. Das Gericht in Trapani auf Sizilien hat am Freitagabend schließlich wenige Minuten Beratungszeit gebraucht, um alle drei NGOs freizusprechen und das Verfahren einzustellen. Im Fall einer Verurteilung hätten den Angeschuldigten Gefängnisstrafen von bis zu 30 Jahren gedroht.
Die Ermittlungen hatten 2017 ihren Anfang genommen – zwei Jahre nach der Flüchtlingskrise, während der auf der sogenannten Balkanroute über eine Million syrischer Kriegsflüchtlinge nach Europa kamen (vorwiegend nach Deutschland), und ein Jahr nachdem in Italien die Rekordzahl von 180.000 Bootsflüchtlingen angelandet waren
Rechtspolitiker in Italien sprachen damals von einer „Invasion“ und bezeichneten die privaten Rettungsschiffe als „Meeres-Taxis“, die mit den Schlepperbanden auf dem Mittelmeer jeweils Treffpunkte vereinbarten, an denen die Flüchtlinge an die NGO-Schiffe übergeben würden.
Die Staatsanwälte nahmen Ermittlungen wegen Begünstigung der illegalen Einwanderung und Komplizenschaft mit den Schleppern auf. Die Stimmung war aufgeheizt; Giorgia Meloni, damals noch in der Opposition, forderte eine Seeblockade durch Marineschiffe gegen die Flüchtlingsboote.
Deal mit Libyen zeigte Wirkung
Die damalige Mitte-Links-Regierung von Paolo Gentiloni stand unter großem Druck; Innenminister Marco Minniti befürchtete wegen der hohen Zahl von Bootsflüchtlingen soziale Spannungen, die außer Kontrolle geraten könnten.
In der Folge schloss die Regierung mit dem Bürgerkriegsland Libyen, von dem aus die meisten Migranten in Richtung Italien ablegten, ein umstrittenes Abkommen: Italien rüstete die libysche Küstenwache auf und zahlte den Warlords hohe Summen, damit sie die Migranten in Libyen zurückhielten. Dass die Flüchtlinge, nachdem sie von der Küstenwache abgefangen wurden, wieder in den libyschen Foltergefängnisse landeten, nahm man in Rom in Kauf.
Gleichzeitig erließ Innenminister Minniti einen „Verhaltenskodex“ für die NGOs, der deren Rettungsaktionen massiv erschwerte. Auch die italienische Küstenwache schränkte ihre Rettungstätigkeit ein.
Die Maßnahmen zeigten Wirkung: Waren in Italien im Jahr 2017 noch 120.000 Migranten angekommen, waren es im Jahr 2018 nur noch 23.000. Dann verschärfte die inzwischen an die Macht gekommene populistische Regierung aus der Fünf-Sterne-Protestbewegung und der vom neuen Innenminister Matteo Salvini angeführten rechtsradikalen Lega die Auflagen für die privaten Retter noch mehr, worauf die Zahl der Bootsflüchtlinge im Jahr 2019 auf 11.000 sank.
Schlepper weichen aus
Doch danach nahmen die Migrantenzahlen wieder kontinuierlich zu, obwohl sowohl das Abkommen mit Libyen als auch die restriktiven Bestimmungen für die NGOs mehr oder weniger unverändert in Kraft blieben: Die Migranten und Schlepper sind einfach auf Tunesien als Ausgangspunkt für die Überquerung des Mittelmeers ausgewichen.
Im vergangenen Jahr sind unter der Rechtsregierung von Giorgia Meloni bereits wieder 150.000 Migranten in Italien angekommen, 50.000 mehr als 2022, als noch der parteilose Mario Draghi in der Regierungsverantwortung stand.
„Das Urteil des Gerichts in Trapani bestätigt das, was wir schon immer gesagt hatten: Die Anschuldigungen gegen die Hilfsorganisationen waren unbegründet und lächerlich“, betonte am Freitag Stefano Di Carlo, Direktor der italienischen Abteilung von Ärzte ohne Grenzen.
Insbesondere der Vorwurf der Zusammenarbeit mit den Schlepperbanden sei böswillig und infam: Selbst der Staatsanwalt habe im Prozess einräumen müssen, dass sämtliche Rettungsaktionen legal und mit der italienischen Küstenwache abgesprochen gewesen seien.
„Unser Fall ist ein Symbol für die Strategien, die europäische Regierungen ergreifen, um Menschen daran zu hindern, sich in Sicherheit zu bringen“, erklärte nach dem Urteil der freigesprochene Sascha Girke der deutschen NGO Jugend Rettet.
Die „fehlerhaften, politisch motivierten Ermittlungen“ hätten zur Folge gehabt, dass Menschen im Mittelmeer gestorben seien oder gewaltsam ins kriegsgebeutelte Libyen zurückgeschickt wurden.