Wie Fati über sieben Länder bis nach Luxemburg flüchtete

Eine Fluchtgeschichte

Luxemburger Wort 21. November 2023

Der 19-jährige Gambier wollte eigentlich nie nach Europa. Nach einem Zerwürfnis mit seiner Familie bleibt ihm nichts anderes übrig, erzählt er. Eine Fluchtgeschichte.

Blaue Jogginghose, grauer Hoodie-Pullover – Fati liebt Sport und kleidet sich dementsprechend. Am Tag des Gesprächs mit dem „Luxemburger Wort“ hat er sein Fitness-Workout bereits hinter sich. Und das trotz einer Verletzung.
Blaue Jogginghose, grauer Hoodie-Pullover – Fati liebt Sport und kleidet sich dementsprechend. Am Tag des Gesprächs mit dem „Luxemburger Wort“ hat er sein Fitness-Workout bereits hinter sich. Und das trotz einer Verletzung. Foto: Chris Karaba

Fati* ist heute gut gelaunt. „Heute könnte es klappen. Meine Nummer ist die nächste auf der Warteliste. Entweder heute oder morgen.“ Seit seiner Ankunft in Luxemburg am 31. Oktober hat er noch keinen Platz in einer staatlichen Flüchtlingsunterkunft zugewiesen bekommen. Die Strukturen sind zurzeit überfüllt, hat ihm die Einwanderungsbehörde an seinem ersten Tag mitgeteilt. Jetzt ist Fati auf einer Warteliste eingetragen. Das Warten mache ihm aber nichts aus, sagt er. „Wenigstens muss ich nicht nach Italien zurück.“

Als Fati an einem Mittwochmorgen die Räumlichkeiten der Ubuntu-Tagesstätte, gemeinsam betrieben von Caritas und JSR (Jesuit Refugee Service), im Garer Quartier aufsucht und die Eingangstür öffnet, zieht er zuerst seine Schuhe aus. Hier in der Tagesstätte hat er tagsüber viel Zeit verbracht und sich an den dort angebotenen Aktivitäten für Dublin-Flüchtlinge beteiligt. Vor einigen Tagen ist der gebürtige Gambier in einer Jugendherberge im Norden untergekommen.

Keine Selbstverständlichkeit – bei seiner Ankunft musste er zuerst drei Tage auf der Straße schlafen. „Ich war ständig müde, weil man auf der Straße nicht gut schläft. Man kann dort nicht richtig zur Ruhe kommen“, erzählt er dem „Wort“. Warme Kleidung, um sich vor dem Beginn der kalten Jahreszeit zu schützen, besitzt er nicht.

Fünf lange Tage auf der Straße

In den drei Tagen, in denen er auf der Straße schläft, lernt Fati nach seiner Ankunft einen anderen Geflohenen kennen. Er ist auch ein Dubliner. Heißt: Eigentlich wäre das Land, über das Fati und sein Freund die EU betreten haben, zuständig für ihr Asylverfahren. Der Mann erzählt Fati davon, ein Zelt zu besitzen. Dort übernachtet er mit anderen Flüchtlingen unter einer Brücke.

Die Bilder vom provisorischen Flüchtlingscamp unter dem Pont Adolphe machten in den Luxemburger Medien die Runde. Fati folgt seinem Freund und übernachtet zwei Tage in dem Zelt. Eine andere Wahl bleibt ihm zu dem Zeitpunkt nicht. „Das Zelt war viel besser für mich als die Straße. Ich war froh, dort unterzukommen“, erklärt Fati.

Ich war ständig müde, weil man auf der Straße nicht gut schläft. Man kann dort nicht richtig zur Ruhe kommen.

Während seiner Zeit auf der Straße bekommt der 19-Jährige Essensgutscheine von den Behörden und kauft sich damit Essen in Supermärkten und Restaurants. Duschen kann er nicht. Dafür hätte er ohnehin meist keine Zeit. Tagsüber stünden eine Reihe von Terminen an: Anwalt, medizinische Untersuchung – und der Besuch bei der Einwanderungsbehörde. Letzteres, um nach einem Platz in einer staatlichen Unterkunft Ausschau zu halten. „Morgen muss ich wieder dorthin. Sie haben mir aber nicht gesagt, warum.“ Die Mitarbeiter der Immigrationsbehörde seien bisher nett zu ihm gewesen.

Fati konvertiert zum Islam – Bruch mit der Familie

Während der heute 19-Jährige erzählt, wie er mit 17 sein Zuhause in Gambia verlassen hat, richtet er seinen Blick teils auf den Teppichboden, dann in kurzen Abständen wieder auf seinen Gesprächspartner. Seine Sätze hält er kurz. Er wiederholt, fast maschinell, die verschiedenen Stationen seiner Reise mehrfach. Fast so, als versuche er selbst, sich an alle Details zu erinnern. Beim Reden zuckt er mit den Schultern. Dabei lässt er immer wieder ein unbeeindrucktes „you know“ folgen. Es ist nicht das erste Mal, dass er seine Geschichte preisgibt. Das merkt man Fati an.

Der junge Gambier stammt aus einem römisch-katholischen Haushalt, beginnt er zu erklären. In seinem Heimatland gehört er damit zu einer religiösen Minderheit. Rund 90 Prozent der Menschen in Gambia sind muslimischen Glaubens, während nur neun Prozent der katholischen Kirche angehören. Der Islam ist die vorherrschende Religion. Dass Gottesdienste zwischen den beiden religiösen Gemeinschaften sogar zusammen gefeiert werden, ist nicht unüblich. Mit 16 konvertiert Fati zum Islam.

Seine Familie, vor allem sein Vater, steht jedoch der Entscheidung des Sohnes im Wege. Er will die Konvertierung nicht akzeptieren. Es kommt zum Bruch mit der Familie. „Ich habe lange mit meinem Vater zu kämpfen gehabt. Es hat damit angefangen, dass er mir verbot, in die Schule zu gehen. Einige Zeit später zwang er mich dazu, das Haus zu verlassen. Es war schwer für mich“, so die Schilderung Fatis.

Im Gespräch mit dem 19-jährigen Gambier – Fati erzählte dem „Wort“ seine Fluchtgeschichte.
Im Gespräch mit dem 19-jährigen Gambier – Fati erzählte dem „Wort“ seine Fluchtgeschichte. Foto: Chris Karaba

Menschenrechtsverletzungen in Libyen: „Sie haben uns verhungern lassen“

In Gambia zu verweilen und in einer anderen Stadt ein neues Leben anzufangen, ist für Fati keine Option. „Meine Familie sind die einzigen Menschen, die ich habe. Wenn ich meine Familie nicht mehr sehen kann, dann habe ich nichts mehr. Es war besser, zu gehen.“ Der Jugendliche hat jedoch kein festes Ziel vor Augen. Er will einfach weg, wie er sagt. Insgesamt sieben Länder wird Fati auf seinem Weg nach Luxemburg durchqueren: Senegal, Mali, Algerien, Libyen, Italien, Schweiz und Frankreich. Senegal ist für ihn bloßes Transitland, in Mali verbringt er rund eine Woche. Dort freundet er sich mit einer Gruppe Menschen an, die sich auf den Weg nach Europa machen. Fati weiß zu dem Zeitpunkt weiterhin nicht wohin, erzählt er, und entscheidet sich dazu, der Gruppe zu folgen.

Um sich die Reise zu finanzieren, verkauft er unterwegs sein Handy. Der Weg bis nach Algerien verläuft ruhig. Erst ab der libyschen Grenze kommt die Gruppe ins Stocken. „Libyen ist eigentlich ein schöner Ort. Nur die Menschen sind das Problem. Wir sind ihnen egal“, leitet Fati seine Erzählung ein. Mit „wir“ meint er die Geflüchteten.

An der libyschen Grenze wird Fati gemeinsam mit seinen Wegbegleitern von den Grenzbehörden festgenommen, erzählt er. Handy, Schuhe, Geld – alles konfisziert. Drei Monate verbringt er dort im Gefängnis unter kritischen Bedingungen. „Sie haben uns verhungern lassen. An manchen Tagen gab es nur ein Laib Brot zu essen.“ Fati und seine Gefährten müssen während ihrer Zeit im Gefängnis Zwangsarbeit erledigen. Wer das Gefängnis verlassen möchte, muss bis zu 3.000 Euro zahlen.

Die Erzählung des jungen Gambiers ist keine Ausnahme. Menschenrechtsverletzungen in Libyen gegenüber Asylsuchenden sind seit Jahren gut dokumentiert. Auch wenn Fati über keinerlei Dokumente oder sonstige Belege für seine Fluchterfahrung verfügt, deckt sich seine Geschichte mit den Erzählungen, die die NGO Amnesty International in einem Bericht über die Menschenrechtsverletzungen in Libyen aus dem Jahr 2021 mit dem Titel „Lybia: No one will look for you“ dokumentierte. Dort ist ebenso die Rede von Zwangsarbeit und Folter.

Von einem NGO-Schiff im Mittelmeer gerettet: „Wir hätten es sonst nicht geschafft“

Als Fati zum ersten Mal der Ausbruch aus dem Gefängnis gelangt, flüchtet er mit anderen zur tunesischen Grenze. Was ihnen auch gelingt. Fati berichtet jedoch davon, wie die Gruppe dort Opfer von Gewalt durch die tunesischen Behörden wurde. Der Gefängnisausbruch scheitert. Die, die die Flucht aus dem Gefängnis geschafft haben, werden nach Libyen zurückgeschickt.

Sechs Tage später gelingt ihm und einer Gruppe von 26 Menschen erneut ein Ausbruch. Es gab einen Aufstand. Dabei sollen rund sechs Personen von den Garden erschossen worden sein. Dem Rest gelang es nach voriger Absprache mit einem Schleuser mit dem Boot zu entkommen. Nach sechs Stunden im Meer wird das Boot von einem Schiff einer Rettungs-NGO aufgefunden. Mit rund 68 Personen an Bord, benötigt das Schiff sieben Tage, um nach Italien zu gelangen. „Das Wetter war schlecht. Wir wussten, dass von 200 Menschen, die aus Libyen flüchten, vielleicht 20 lebend ankommen. Hätte uns das Schiff der NGO nicht gefunden, wären wir sicher gestorben.“

Für den jungen Gambier jagt trotz Erleichterung, die Reise nach Europa bestanden zu haben, eine Enttäuschung die andere. Als das Schiff am sizilianischen Hafen von Trapani Anker legt, werden die Flüchtlinge nach Matera in der süditalienischen Region Basilikata transferiert. Dort will Fati endlich seinen Asylantrag stellen. Als er zuerst die Behörden darüber informiert, dass er in Libyen Opfer von Gewalt gewesen ist und ärztliche Behandlung benötigt, lehnen diese ab, so die Schilderung des Gambiers. Fati müsse seine Dokumente vorzeigen. „Ich wusste nicht mal, von welchen Dokumenten sie sprechen.“

Wer für Fatis Asylstatus zuständig sein wird, ist noch ungewiss. Sollte Italien Fatis Fall nicht übernehmen können aufgrund der aktuellen administrativen Überforderung, könnte Fati in Luxemburg einen Asylstatus erhalten.
Wer für Fatis Asylstatus zuständig sein wird, ist noch ungewiss. Sollte Italien Fatis Fall nicht übernehmen können aufgrund der aktuellen administrativen Überforderung, könnte Fati in Luxemburg einen Asylstatus erhalten. Foto: Chris Karaba

Als er daraufhin seinen Asylantrag stellen will, wird ihm mitgeteilt, er müsse erst auf eine Warteliste. Die Bearbeitung seines Antrags könnte bis zu zwei Jahre dauern. „Ich bin den Behörden nicht böse. Sie versuchen nur zu helfen.“ Einen Monat wartet Fati in einem Flüchtlingslager auf den Aufruf der Behörden – umsonst. Er wurde in der Eurodac-Datenbank mit seinen Fingerabdrücken registriert, daraufhin folgt nur eine Warterei. Als Fati einsieht, dass er in Italien wohl keine Zukunft hat, zieht er weiter.

„Ich will einfach nur wieder in die Schule gehen“

„Ich wollte ursprünglich nicht nach Luxemburg. Nach Italien musste ich jedoch ein neues Land finden. Ich wusste, dass Deutschland Gambier rasch wieder in ihr Land zurückschickt und es dort keine Chance auf Asyl geben wird. In der Schweiz haben mir Polizisten zu verstehen gegeben, ich solle so schnell wie möglich das Land verlassen. Über Frankreich wusste ich, dass nur wenige Englisch sprechen. Luxemburg hingegen ist mehrsprachig. Dort wollte ich also hin“, erzählt Fati.

Ich bin den Behörden nicht böse. Sie versuchen nur zu helfen.

Die Erwartungen an seine Zeit in Luxemburg fasst er in einem Satz zusammen: „Ich will einfach nur wieder in die Schule gehen.“ Ein gutes Leben, Sicherheit, Bildung – Fati sehnt sich nach Stabilität. Am liebsten würde er Informatik an der Universität studieren. Das ist für ihn als Asylwerber in Luxemburg nicht möglich. Nicht einmal Sprachkurse darf Fati besuchen. „Das ist schade. Ich möchte nämlich gerne in meinem Leben acht Sprachen sprechen.“ Auch Luxemburgisch, ergänzt er.

Zunächst muss sein Asylstatus geregelt werden. Da er in Italien registriert wurde, sollte das Land für seinen Asylprozess zuständig sein. Die Luxemburger Behörden hätten bereits die italienischen Kollegen kontaktiert. Nun gibt es zwei Szenarien. Entweder, es erfolgt keine Antwort auf die Anfrage Luxemburgs und Italien stimmt damit passiv zu, für Fati zuständig zu sein. Oder Italien übergibt Fatis Fall in Luxemburgs Hände, weil die italienischen Behörden überlastet sind. In der Zwischenzeit hofft Fati auf das Beste. „Ich möchte mich endlich auf meine Zukunft konzentrieren und damit aufhören, ständig über meine Vergangenheit nachzudenken.“

* Hierbei handelt es sich um einen fiktiven Namen, um die Identität der betroffenen Person zu schützen.