Ministerin Corinne Cahen im t- interview

Integration kann laut Ministerin Corinne Cahen zwar vom Ministerium unterstützt werden, doch die Umsetzung muss an Ort und Stelle in den Gemeinden, Schulen und Vereinen erfolgen.

„Jedes Prozent ist ein Prozent zu viel“: Integrationsministerin Cahen über Rassismus-Vorwürfe in Luxemburg
Eigentlich stammt die Studie der EU-Agentur für Grundrechte aus dem Jahr 2018. Die Resultate von „Being Black in Europe“ aber schlagen auch heute noch hohe Wellen. Der Erhebung zufolge wurde in Luxemburg jeder zweite Mitbürger schwarzer Hautfarbe in den letzten fünf Jahren rassistisch beleidigt. Mehr noch: Knapp 70 Prozent fühlten sich aufgrund ihrer Hautfarbe benachteiligt. Familien- und Integrationsministerin Corinne Cahen (DP) will sich von den Zahlen nicht beirren lassen: Ihr Auftrag sei es, die Diskriminierung mit allen Mitteln zu bekämpfen. Jede einzelne rassistische Bemerkung sei eine Bemerkung zu viel.

Von Eric Hamus, tageblatt 28.11.2019

Tageblatt: Frau Ministerin, hat Luxemburg ein Rassismus-Problem?

Corinne Cahen: Ich hoffe nicht! Die Hälfte der Einwohner sind keine Luxemburger, in der Hauptstadt sind es sogar 73 Prozent. Also würde ich doch schwer hoffen, dass wir kein Problem mit Rassismus haben. Allerdings handelt es sich dabei um ein Phänomen, das mit allen Mitteln zu bekämpfen ist. Es liegt an uns allen, uns gegenseitig kennenzulernen und zusammenzuwachsen, aber auch zu verhindern, dass verschiedene Nationalitäten unter sich bleiben. Es fängt an in der Schule, setzt sich im Betrieb fort und gilt auch für das Zusammensein im Verein oder beim Ausüben eines Hobbys.

Vor etwas mehr als einem Jahr hat die EU-Agentur für Grundrechte dem Großherzogtum in Sachen Rassismus und Diskriminierung ein sehr schlechtes Zeugnis ausgestellt. Fast 70 Prozent fühlen sich in Luxemburg wegen ihrer Hautfarbe benachteiligt, jeder Zweite wurde laut der Studie „Being Black in Europe“ rassistisch beleidigt. Waren Sie sich der Ausmaße des Problems bewusst?

Jede rassistische Bemerkung ist eine Bemerkung zu viel. Wenn auch nur eine Person sich diskriminiert fühlt, ist das bereits ein Grund, aktiv zu werden. Deshalb versuchen wir ständig, die Integration voranzutreiben, zusammen mit unseren Partnern auf lokaler Ebene. Im Rahmen unseres nationalen Aktionsplans gehen regelmäßig neue, interessante Projekte bei uns ein. Ich denke zum Beispiel an eine Initiative der ASTI („Association de soutien aux travailleurs immigrés“, Anm. d. Red.) zur Schaffung von Begegnungsstätten in den Ortschaften, an eine Integration via Sport mit dem Projekt „Sports Unified“ oder positive Integrationsbotschaften in Wartesälen. Wir arbeiten auch an Initiativen, die ganz spezifisch Menschen ansprechen, die aus anderen Kulturkreisen nach Luxemburg kommen. Wir unterstützen diese Vorschläge, auch finanziell, doch die Umsetzung muss in den Gemeinden erfolgen. Integration erfolgt nicht im Ministerium, sondern an Ort und Stelle, in den Gemeinden, Schulen und Vereinen.

Luxemburg gibt sich gerne offen und tolerant, schmückt sich mit dem hohen Ausländeranteil und dem ganzen Multikulti. Kann es sein, dass das Problem etwas unterschätzt wurde?

Das glaube ich nicht. Schließlich wird das Thema doch immer wieder vorgebracht, zum Beispiel auch im letzten Wahlkampf. Wir beschäftigen uns doch regelmäßig mit dem Stellenwert unserer Sprache, mit der Frage unserer Identität. Eine deutsche Familienministerin hat mir mal erklärt, was unsere Nachbarn unter „Deutsche mit Migrationshintergrund“ verstehen: Wenn mindestens ein Großelternteil nicht aus Deutschland stammt. So betrachtet gibt es bei uns dann kaum noch Luxemburger ohne Migrationshintergrund. Und genau das ist Teil unserer Identität. Man kann Ihre Frage auch anders stellen: Gehört es nicht aber bereits zu unserem Alltag? Ich bin eher der Meinung, dass das Thema in Luxemburg mehr als anderswo zur Sprache kommt. Leider gibt es kein Geheimrezept gegen Diskriminierung. Es bedarf vielmehr ständiger Arbeit.

Apropos Geheimrezept: Was halten Sie von einer entsprechenden Quote für Vorstände und andere entscheidende Gremien?
Wenn man Quoten für Mitbürger mit afrikanischen Wurzeln einführt, muss man sie auch für andere Menschen einführen. Diskriminierung richtet sich nicht nur gegen Hautfarbe, sondern auch gegen Behinderung, sexuelle Orientierung oder den Glauben, um nur diese zu nennen. Außerdem ist es auch ein subjektives Gefühl: Habe ich den Posten nicht bekommen, weil ich Jüdin bin oder weil ich nicht die nötigen Kompetenzen habe? Also ist es auch unsere Pflicht, dieses subjektive Gefühl der Diskriminierung zu eliminieren. Und das erreichen wir nur, indem wir eine offene Gesellschaft schaffen, in der sich alle Menschen gegenseitig akzeptieren, so wie sie sind.

Ein Ansatz, der immer wieder genannt wird, ist das „Empowerment“. Sehen Sie auch in dieser Hinsicht Möglichkeiten?

Wir müssen alle bei uns selbst anfangen. Ich denke beispielsweise an die Parteien, die während der letzten Legislaturperiode das Prinzip eingeführt haben, dass 40 Prozent der Plätze auf den Wahllisten Vertretern des sogenannten „sexe sous-représenté“ vorbehalten sind. Es reicht aber nicht, jemanden einfach nur auf eine Liste zu setzen, um im Nachhinein ein Kästchen ankreuzen und einen Punkt auf der Liste abhaken zu können. Das bringt doch nichts! Wir müssen den Menschen die nötige Kraft geben, sich aufzusetzen und die Kompetenzen zu entwickeln, um auch wirklich gewählt zu werden. Natürlich ist die Kandidatur auf einer Liste – um bei diesem Beispiel zu bleiben – ein erster Schritt. Doch ist es nicht das Ziel an sich. Das haben wir erst mit einer Gesellschaft erreicht, in der alle Menschen vertreten sind. In der auch jeder das Gefühl hat, zu Hause zu sein.

Was wären denn noch Integrationsprojekte, die künftig anstehen?

Leider sind unsere finanziellen Mittel etwas eingeschränkt. Mit dem Finanzministerium haben wir aber eine große Studie ausgehandelt, die sich auf objektive Zahlen stützen soll. Wie bereits erwähnt, ist Integration ein subjektives Gefühl. Wir brauchen aber auch objektive Daten, um der Frage „Was ist Integration und wie wird sie erlebt?“ auf den Grund zu gehen. Dann liegt mir aber auch die Charta der Diversität am Herzen. Wir wissen heute, dass Unternehmen, die sich der Charta verpflichten, weitaus erfolgreicher sind als andere. Die Atmosphäre im Betrieb ist besser, die Menschen gehen gerne ihrer Arbeit nach, was sich natürlich auch auf die Ergebnisse auswirkt. Und dann haben wir einen neuen Aufruf für Projekte im Rahmen des nationalen Aktionsplans „Integration“ gestartet. Diese müssen von den Partnern kommen und in den Gemeinden umgesetzt werden.

Laut der Studie „Being Black in Europe“ fühlen sich 53 Prozent der Schwarzen in Luxemburg rassistisch angegriffen. Einer Studie des „Observatoire des discriminations“ aus dem Jahr 2015 spricht hingegen von nur 3 Prozent. Wie erklären Sie sich diesen Unterschied?

Als Ministerin habe ich es mir abgewöhnt, Zahlen zu kommentieren oder zu interpretieren. Beide Resultate müssen akzeptiert werden, ob nun 3 oder 53 Prozent. Auch 3 Prozent sind zu hoch. Jedes Prozent ist ein Prozent zu viel! Wir müssen agieren, anstatt die Studien infrage zu stellen. Mir steht es nicht zu, diese Zahlen zu kommentieren. Sondern meine Aufgabe ist es, zusammen mit unseren Partnern die Diskriminierung mit allen Mitteln zu bekämpfen.