Warum Jean Asselborns restriktive Asylpolitik fragwürdig ist

Kaputtes Dublin-System

Warum Jean Asselborns restriktive Asylpolitik fragwürdig ist

Das Dublin-System zur Aufnahme von Flüchtlingen hat versagt. Doch auch Luxemburg nimmt sich das Recht heraus, EU-Regelwerke zu ignorieren.

Luxemburger Wort 15.November 2023

Laut der EU-Asylagentur hat die EU im Jahr 2022 fast eine Million Asylanträge verzeichnet.
Laut der EU-Asylagentur hat die EU im Jahr 2022 fast eine Million Asylanträge verzeichnet. Foto: DPA

Im November beginnt die kalte Jahreszeit. Temperaturen können in der Nacht bis auf fünf Grad Celsius sinken. Unter der Adolphe-Brücke im Herzen von Luxemburg-Stadt ist die Kälte besonders spürbar. In den Zelten, die dort vor mehr als zwei Wochen wie aus dem Boden gestampft wurden, schlafen Menschen. Tagsüber wärmen sie sich in Tagesstätten auf und nehmen den Weg zur Einwanderungsbehörde auf sich. Ihnen bleibt nichts anderes übrig.

Seitdem die Flüchtlingsunterkünfte Ende Oktober an die Grenzen ihrer Aufnahmekapazitäten gestoßen sind, wurden Wartelisten eingeführt. Junge alleinstehende Männer, die in einem anderen Land einen Asylantrag gestellt haben, sogenannte Dubliner-Fälle, müssen so lange auf den Wartelisten verharren, bis ihnen ein Platz in einer Unterkunft zugewiesen wird. In der Zwischenzeit sind sie auf die Unterstützung der Zivilgesellschaft angewiesen – an schlechten Tagen bleibt ihnen nur das Zelt.

Laut der europäischen Aufnahmerichtlinie ist das Großherzogtum dazu verpflichtet, Geflüchteten einen Platz in staatlichen Aufnahmestrukturen zu garantieren. Tut es das nicht, bricht Luxemburg EU-Recht. Außen- und Immigrationsminister Jean Asselborn ist sich dessen bewusst. „Wir wissen, dass wir das Recht brechen, das macht Belgien allerdings auch.“ Luxemburg sei ein Opfer eines „nicht funktionierenden Dublin-Systems“, kritisiert Asselborn.

Dass das sogenannte Dublin-System fehlerhaft ist, steht kaum zur Debatte. „Das Dublin-System – das seit 1990 quasi unverändert ist – ist gescheitert“, stellte das EU-Parlament in einem Bericht aus dem Jahr 2020 über die Umsetzung der Dublin III-Verordnung selbstkritisch fest. Das Systemversagen war programmiert, sagen Migrations-Experten. Und die derzeit fast fertig ausgehandelte Reform des EU-Asylsystems wird daran kaum etwas ändern, da das Prinzip des Dublin-Verfahrens darin weiter zementiert wird.

Küsten- und Grenzländer von Dublin-System überfordert

„Ziel der Dublin-Verordnung war es, die Zuständigkeiten unter den Staaten aufzuteilen. Es ging dabei um eine gerechte Verteilung“, bricht Prof. Dr. Birte Nienaber, Geografin mit Schwerpunkt Migration an der Universität Luxemburg und Koordinatorin des European Migration Network Luxemburgs (EMN), den Kern des Dublin-Systems herunter. Die Verordnung sollte von Grund auf regeln, welcher Staat für die Prüfung eines in der EU gestellten Asylantrags zuständig ist, um zu vermeiden, dass mehrere Anträge gleichzeitig oder nacheinander gestellt werden. So sollte „Asyl-Shopping“ verhindert werden.

Das Ersteintrittland, also der Staat, über den Geflüchtete nach Europa gelangen, gilt dabei als zuständig für das Asylverfahren. „Wenn man sich anschaut, wo die Menschen eintreten, dann haben Länder wie Italien oder Griechenland eine höhere Last zu tragen. Sie sind überfordert mit der Menge an Menschen, die dort ankommen“, bemerkt Nienaber. Das führe dazu, dass beispielsweise Italien Flüchtlinge weiterziehen lässt, ohne diese zu registrieren. Obwohl das Küstenland dazu verpflichtet wäre, die Fingerabdrücke von Geflüchteten in der Eurodac-Datenbank aufzunehmen. Damit Behörden in anderen Mitgliedstaaten überprüfen, ob die Person bereits in einem anderen Land registriert wurde.

Wer also über Italien nach Luxemburg gelangt, dürfte nach dem Dublin-System an das für den Asylprozess zuständige Land überstellt werden.

Darin liege die Erbsünde des Systems, so Catherine Woollard, Direktorin des European Council on Refugees and Exiles (ECRE): „Die Dublin-Verordnung schafft aufgrund des Prinzips der Ersteinreise eine unverhältnismäßige Verantwortung für die Länder an den Außengrenzen der EU“. Das schaffe wiederum Anreize, um das System zu sabotieren: „In diesem Zusammenhang versuchen die Länder an den EU-Außengrenzen, ihre Verantwortung zu minimieren, indem sie die Menschen ausreisen lassen und die Aufnahmebedingungen so schlecht halten, dass es nicht möglich ist, die Menschen zurückzuschicken.“

Nur acht Prozent der Überstellungen tatsächlich durchgezogen

Die Realität ist: Kaum Leute werden nach Italien zurückgeschickt. 2022 wurden nur acht Prozent der angefragten Überstellungen in ein anderes EU-Land durchgeführt. 70 Prozent davon waren sogenannte „take-back“-Anfragen, nach denen Asylsuchende in ein anderes Mitgliedsland überstellt werden, weil dieses ursprünglich für ihr Asylverfahren zuständig ist. 2022 ist mit 172.000 Dublin-Verfahren seit 2014 das Jahr mit den meisten Anfragen.

„Überstellungen dauern länger, weil Geflüchtete gegen die Abschiebung in ein anderes Land erstmal klagen können. Zudem gibt es auch Kooperationsschwierigkeiten mit anderen Ländern, die sie nicht aufnehmen möchten. Oder sie nicht aufnehmen können, weil sie die Kapazitäten nicht dazu haben“, erklärt Nienaber.

2022 stellte Luxemburg laut dem jährlichen Bericht des European Council on Refugees and Exile (ECRE) 595 Dublin-Anträge an andere Mitgliedstaaten, um Überstellungen durchzuführen. Nur 137 wurden laut dem Jahresbericht des Immigrationsministeriums durchgeführt. Laut dem Ministerium hätte eine Anzahl an Asylbewerbern vor dem Asylentscheid Luxemburg verlassen. „Die meisten Dublin-Menschen sind in der Structure d’hébergement d’urgence Kirchberg (Shuk), die eine offene Struktur ist, untergekommen. Man muss es so sagen: Es gibt viele, die in der Zwischenzeit verschwinden“, bestätigt Nienaber dem „Wort“.

„Luxemburg ist ein Opfer der Unsolidarität innerhalb von Europa“

Wie Luxemburg auf ein kaputtes Dublin-System reagiert, hat sich trotz der anhaltenden Kritik daran, erst 2023 gezeigt. Um genauer zu sein, vor weniger als einem Monat, mit der Einführung der Warteliste für männliche Dublin-Flüchtlinge. Damit fährt gerade Luxemburg einen restriktiven Asylkurs, wie etwa seine Nachbarländer. Ob das Großherzogtum damit richtig liegt, bezweifelt Nienaber. „Damit übergibt man die Verantwortung an andere Mitgliedsländer und schafft eine sinkende Solidarität in Europa.“ Eine wirkliche Lösung, um das Dublin-System zu reparieren, könne nur zustande kommen, wenn „alle Mitgliedstaaten eine gemeinsame Lösung finden. Und das von Nordfinnland bis Südportugal.“

Ich würde eher sagen, dass Luxemburg seine Rolle wahrgenommen hat und andere nicht.

Prof. Dr. Birte Nienaber

Koordinatorin des European Migration Network Luxembourg (EMN)

Lösungsvorschläge scheitern wiederholt am Widerstand vereinzelter Mitgliedstaaten. Länder wie Polen oder Ungarn wollen überhaupt nichts von Migranten hören. Und beim Vorschlag, die Registrierung von Asylsuchenden von der Zuständigkeit für das Asylverfahren abzukoppeln, sind reichere Staaten nicht einverstanden. „Staaten wie Deutschland oder Schweden werden nicht mitspielen“, sagt Nienaber. Denn „die Verteilung wäre hierdurch nicht solidarischer, wenn die Belastungsgrenze Italiens und Griechenlands auf Schweden und Deutschland übertragen wird.“

Das werde am restriktiven Asylkurs, der sich aktuell innerhalb der EU breitmacht, ersichtlich. Länder, wie Luxemburg, die in den letzten zehn Jahren ihre Aufnahmekapazitäten fast verdoppelt haben und „mehr pro Kopf als andere Mitgliedstaaten aufgenommen hat“, werden aufgrund ihrer solidarischen Haltung mit Dublin-Fällen überrannt. Luxemburg sei demnach kein Opfer des Dublin-Systems per se. „Ich würde eher sagen, dass Luxemburg seine Rolle wahrgenommen hat und andere nicht. Luxemburg ist demnach ein Opfer der Unsolidarität innerhalb von Europa“, schlussfolgert Nienaber.

ECRE-Chefin Woollard sieht die Haltung der Regierung allerdings kritischer: „Es ist eine sehr gefährliche Situation, wenn Länder versuchen, ihre Rechtsverletzungen mit dem Verweis auf eine fehlerhafte EU-Politik zu rechtfertigen – die Asylkrise wird so zu einer Krise der Rechtsstaatlichkeit.“