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Auf den letzten Drücker

Süddeutsche  Zeitung  20.12.2023

Warum sich Europaparlament, Rat und EU-Kommission unbedingt noch vor Weihnachten auf eine schärfere gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik verständigen wollten – und wer sich am Ende durchgesetzt hat.

Von Markus Balser und
Josef Kelnberger

Dies sei ein bewegender Augenblick auch für sie ganz persönlich, sagte Roberta Metsola, die Präsidentin des Europaparlaments, als sie am Mittwochvormittag vor die Medien trat. Sie stamme von einer kleinen Insel im Mittelmeer, Malta. Und sie wisse aus eigenem Erleben, welch schicksalhafte Bedeutung die Fragen von Migration und Asyl haben – zuvorderst natürlich für die geflüchteten Menschen, aber auch für die Europäische Union. Und deshalb, sagte Metsola, sei dies nun ein historischer Tag: „Europa kann heute stolz auf sich sein.“

Worauf Europa laut Metsola stolz sein kann, ist nach Meinung von Kritikern eher eine Schande für Europa: ein Paket aus fünf Gesetzestexten, die der EU eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik bescheren sollen – Aufnahme, Verteilung und Rückführung von Flüchtlingen aus einer Hand. Unterhändler von Parlament, Rat der Mitgliedsländer und EU-Kommission hatten sich am Morgen darüber im Grundsatz verständigt. Im Zentrum dieser Reformen steht zweifellos eine massive Verschärfung des Asylrechts.

Über Anträge von Bewerbern mit geringen Aussichten soll binnen zwölf Wochen im Schnellverfahren entschieden werden. Bis zur Entscheidung sollen sie in großen Lagern an den Außengrenzen – also in Ländern wie Italien und Griechenland – festgehalten werden. Wer in diese Lager kommt, entscheidet sich anhand von zwei Kriterien. Da ist zum einen die Anerkennungsquote für das Herkunftsland; liegt sie bei weniger als 20 Prozent, soll das Schnellverfahren greifen. Zweites Kriterium ist, ob die Asylbewerber Verbindung zu einem „sicheren Drittstaat“ haben. Diese „Verbindung“ könnte die Durchreise auf dem Weg nach Europa sein. Bei der Sortierung der Flüchtlinge („Screening“) gelten diese juristisch als nicht eingereist, wie im Flughafenverfahren. Das erleichtert die Abschiebung, die binnen weniger Wochen erfolgen soll.

Mit Blick auf die Europawahlen im Juni 2024 will die EU die Botschaft verbreiten: Es braucht keine Rechtspopulisten, um die Probleme der Migration zu lösen – Europa hat einen gemeinsamen Plan, um die Zahl der ankommenden Flüchtlinge zu senken. Allerdings muss die Einigung vom Mittwoch erst noch formell von Parlament und Rat abgesegnet werden. Das wird wohl nicht vor April geschehen, so lange dürfte es dauern, bis die politische Einigung in allen Details ausformuliert ist. Bis das ganze System steht, könnten zwei Jahre vergehen. Vor der Europawahl hat die Reform also keinerlei praktische Auswirkungen.

Es wurde viel Zeit verschenkt nach der Flüchtlingskrise der Jahre 2015 und 2016. Erst als die Flüchtlingszahlen im vergangenen Jahr wieder stiegen, gewann das Thema in Brüssel erneut an Brisanz. Rat und Parlament griffen Gesetzentwürfe auf, die die Kommission schon im September 2020 vorgelegt hatte. Das Erstarken der Rechtspopulisten überall in Europa, getrieben vom Thema Migration, hat noch einmal zusätzlichen Druck erzeugt. Eine Einigung sollte deshalb unbedingt noch vor Weihnachten her.

Die Unterhändler der drei EU-Institutionen verhandelten seit Sonntag Tag und Nacht. Deshalb standen an diesem Mittwochmorgen drei übermüdete Menschen neben Roberta Metsola: der schwedische Christdemokrat Tomas Tobé, die französische Liberale Fabienne Keller und der spanische Sozialdemokrat Juan Fernandez López Aguilar. Sie handelten wesentliche Teile des Pakets aus und stehen auch für die Allianz aus den drei Fraktionen, die das Gesetzespaket im Parlament tragen – zum Teil auch widerwillig.

Verantwortung und Solidarität lauten im EU-Sprech die Zauberwörter der Vereinbarung: Die Staaten an den Außengrenzen sollen wieder, wie es ihre Pflicht ist, alle ankommenden Flüchtlinge erfassen und deren Asylanträge bearbeiten. Bislang werden sie in großer Zahl weitergeschickt, die meisten landen in Deutschland. Im Gegenzug sind die anderen Länder verpflichtet, den Grenzstaaten Solidarität zu leisten. Allerdings ist der Bereich „Solidarität“ in der Vereinbarung nicht sehr stark ausgeprägt. Regierungen können sich von der Verpflichtung, Asylbewerber zu übernehmen, mit 20 000 Euro pro Kopf freikaufen. Die Parlamentsvertreter kämpften in den Verhandlungen bis zuletzt vergeblich gegen diese Ausnahmeregel und mussten auch sonst in wesentlichen Punkten nachgeben.

Manche fühlten sich regelrecht erpresst vom Rat, der signalisierte: Die von den 27 Regierungen im Juni dieses Jahres mit qualifizierter Mehrheit vereinbarte Verhandlungsposition sei so fragil, dass es kaum Raum für Kompromisse gebe. Die deutsche Regierung hoffte deshalb vergeblich, dass nicht nur unbegleitete Minderjährige, sondern auch Familien mit Kindern von den Grenzverfahren ausgenommen werden. Das Parlament erreichte immerhin, dass Standards für die Unterbringung von Familien mit Kindern formuliert wurden. Sie sollen zudem nachrangig in die Lager geschickt werden und diese auch als Erste wieder verlassen dürfen. Erst recht, wenn diese voll sind. 30 000 Plätze sollen die Staaten an den Außengrenzen in diesen Lagern vorhalten. Flüchtlinge dürfen dort nicht unbegrenzt festgehalten werden. Es soll eine maximale Verweildauer festgeschrieben werden.

Der Kompromiss ist ein Triumph für die von Ursula von der Leyen geführte Kommission, die beharrlich für das Gesetzespaket geworben hatte. Eine Zerreißprobe ist die Einigung vor allem für die Grünen. Sie lehnen das Prinzip der Internierung von Flüchtlingen an den Außengrenzen ab. Vor allem leisteten sie Widerstand gegen die sogenannte Krisenverordnung und die darin enthaltenen Regeln im Falle einer „Instrumentalisierung“ von Flüchtlingen, wie sie der belarussische Autokrat Lukaschenko praktiziert: Er schickt immer wieder Flüchtlinge an die EU-Grenzen mit dem falschen Versprechen, sie seien in Europa willkommen. Das Gesetz sieht dafür im Extremfall vor, alle Flüchtlinge ins Schnellverfahren zu schicken. Das Parlament erreichte einige humanitäre Erleichterungen und konnte zumindest verhindern, dass auch Flüchtlinge, die von NGO-Schiffen gerettet wurden, unter diese Regel fallen.

Während Terry Reintke als Vorsitzende der Grünen im Europaparlament kritisierte, die Reform sorge für „großes menschliches Leid“, fand ihre Parteikollegin Annalena Baerbock als Außenministerin lobende Worte. Es brauche „für alle verlässliche Regeln für Migration und Asyl“. Erstmals würden nun die EU-Mitgliedstaaten zu Solidarität verpflichtet. „Damit steigen wir endlich in eine europäische Verteilung ein“, sagte Baerbock. Die „unmenschlichen Zustände an der EU-Außengrenze“ dürften nicht „das Gesicht bleiben, das Europa der Welt zeigt“. Deutschland habe in den Verhandlungen Verbesserungen erreicht, sei aber auch daran gescheitert, Familien mit Kindern ganz von den Grenzverfahren auszunehmen. „Zur Wahrheit gehört: Jede Einigung in Brüssel ist auch immer ein Kompromiss.“

Mehr als 60 Nichtregierungsorganisationen kritisieren die Beschlüsse, vor allem die Internierung von Kindern. Das ist ein Problem für die deutschen Grünen. Der grüne Bundestagsabgeordnete Julian Pahlke, selbst vor seinem Einzug ins Parlament Seenotretter auf dem Mittelmeer, machte klar, dass die Zustimmung Deutschlands in den Reihen der Grünen weiter auf Widerspruch stößt. Die Reform werde keines der Probleme lösen, mahnte Pahlke. „Das neue System schränkt das individuelle Asylrecht massiv ein. Es wird zu Haftlagern führen“, sagte er weiter. Gleichzeitig werde nicht mal eine funktionierende Verteilung von Geflüchteten beschlossen. „So werden Außengrenzstaaten weiter alleingelassen.“ Der sogenannte Solidaritätsmechanismus bleibe „weitestgehend wirkungslos“, wenn Mitgliedstaaten der Union sich mit Geldzahlungen aus der Verantwortung ziehen könnten. Das individuelle Asylrecht sei als Konsequenz aus den dunkelsten Jahren Deutschlands und Europas entstanden, sagte Pahlke. „Die heute beschlossene Aushöhlung des Asylrechts ist auch ein Bruch mit dieser historischen Lehre.“

Bundeskanzler Olaf Scholz lobte die Einigung. „Damit begrenzen wir die irreguläre Migration und entlasten die Staaten, die besonders stark betroffen sind – auch Deutschland“, schrieb er auf der Plattform X. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) berichtete, sie selbst habe die ganze Nacht zum Mittwoch immer wieder mit Nachdruck um Zustimmung im Rat und im Parlament gerungen und viele Gespräche geführt. „Dabei“, sagte Faeser, „war immer klar, was auf dem Spiel steht: Wenn wir das Europa der offenen Grenzen im Inneren bewahren wollen, müssen wir die Außengrenzen schützen und funktionierende Verfahren erreichen.“

Kommentar  der SZ:

Der Kompromiss verfolgt zwei Ziele: die Abwehr von Flüchtlingen – und von Populisten

ASYLPOLITIK DER EU

Mit Spuren von Solidarität

Von Karoline Meta Beisel

Es ist geschafft: Die Gesetzgeber der Europäischen Union haben sich auf ein neues Asylrecht geeinigt. Das ist in der Tat ein historischer Erfolg. Jahrzehntelang war es nicht gelungen, sich in der Migrationsdebatte überhaupt noch auf irgendetwas zu einigen, so festgefahren war sie. Stattdessen schob praktisch jedes Land seine innenpolitische Debatte mit Verweis auf eine dringend nötige „europäische Lösung“ vor sich her – was zwar zutreffend war, aber oft nur eine Ausrede, um sich schwierige Fragen gar nicht erst zu stellen.

Nun liegt diese viel beschworene europäische Lösung vor. Aber ist sie das denn auch: eine Lösung? Die neuen Regeln setzen viel stärker als bisher auf Abschreckung, etwa durch deutlich härteren Umgang mit Asylsuchenden aus relativ sicheren Staaten. Diese müssen künftig in geschlossenen Lagern an den Außengrenzen der Europäischen Union auf das Ende ihres Verfahrens warten. Selbiges erwartet Familien mit kleinen Kindern, was der EU bald nicht nur hässliche Bilder, sondern ziemlich sicher auch Klagen vor Gericht bescheren wird. Und wohin werden dereinst die Menschen gehen, die mit einem negativen Bescheid aus diesen Lagern entlassen werden?

Aus Sicht derjenigen, die in der Migrationsdebatte nicht auf Abschreckung, sondern auf Wahrung der Menschenrechte setzen wollten, verbessern die nun ausgehandelten Gesetze wenig bis nichts. Beispiel Mittelmeer: Auch bisher war es rechtswidrig, Migrantenboote auf See durch Warnschüsse zurückzudrängen – aber viele Mitgliedstaaten halten sich in Asylfragen eben nur an jene Gesetze, die ihnen nützlich sind. Daran wird sich nichts ändern.

Für Deutschland als Zielland vieler Asylsuchenden war die solidarische Verteilung der Geflüchteten auf die Länder der EU stets ein wichtiger Punkt. Davon sind in den neuen Gesetzen immerhin Spuren enthalten, indem Länder wie Ungarn zwar auch künftig keine Geflüchteten aufnehmen, sich stattdessen aber zumindest an den Kosten beteiligen, die anderswo durch deren Versorgung entstehen.

Was die Einigung zu nicht geringem Teil ist: Selbstverteidigung der Akteure gegen rechts. Bereits heute gibt es in der EU nur für restriktive Flüchtlingspolitik noch Mehrheiten, nicht aber für liberale. Das Europaparlament hatte dabei stets als Korrektiv gewirkt. Aber es ist absehbar, dass sich auch dort die Mehrheiten mit der Europawahl im kommenden Jahr nach rechts verschieben werden. Zugleich hätte es den Rechten zusätzlichen Rückenwind gegeben, das Migrations-„Problem“ (für das viele Wähler es nun mal halten) erneut zu vertagen. Ein menschenfreundlicheres Asylrecht hätte dann erst recht keine Chance gehabt.

Es wird noch zwei, drei Jahre dauern, bis die jetzt beschlossenen Regeln in Kraft getreten sind und ihre Wirkung entfalten. Vieles wird man erst mit etwas Abstand beurteilen können. Die Zahl der Ankünfte jedenfalls, so sagen es Experten, dürfte sich angesichts der Krisen auf der Welt kaum verringern. Deswegen dürfte auch der Druck von rechts hoch bleiben, noch strenger gegen Migranten vorzugehen.

Darum ist die Aufgabe für Europa nach der Einigung letztlich dieselbe, die sie vorher war: Weiter nach Antworten zu suchen, wie die Herausforderungen, die die Migration mit sich bringt, besser und auch humaner bewältigt werden können.