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« Das ist eine Schande »

Als Grandi 2016 sein Amt als Uno-Hochkommissar für Flüchtlinge antrat, steckte Europa mitten in der Flüchtlingskrise. Seitdem muss er Antworten finden auf eine der drängendsten Fragen unserer Zeit: Was tun, wenn sich immer mehr Menschen auf der Flucht befinden, aber immer weniger Staaten bereit sind, Vertriebene aufzunehmen? Grandi, 62, ist Chef einer Behörde mit mehr als 16 000 Mitarbeitern, die von den griechischen Inseln bis Uganda im Einsatz sind. Am Dienstag eröffnete er das Global Refugee Forum in Genf, eine der größten Flüchtlingskonferenzen der Geschichte.

SPIEGEL: Herr Grandi, während sich vor allem Industrienationen abschotten, sind so viele Vertriebene auf der Flucht wie noch nie. Wie gehen Sie mit diesem Dilemma um?

Grandi: Die finanzielle Unterstützung der Staaten ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Deutschland gibt uns viermal so viel Geld wie noch vor rund zehn Jahren. Aber Sie haben recht, insbesondere die reichen Staaten des globalen Nordens sind immer weniger bereit, Flüchtlinge aufzunehmen. Es braucht Programme, mit denen ausgewählte Flüchtlinge direkt aus einem Krisengebiet in ein sicheres Land gebracht werden.

SPIEGEL: Allerdings stellen die Staaten immer weniger Plätze für solche Umsiedlungen zur Verfügung.

Grandi: Das ist in der Tat sehr besorgniserregend. Die USA haben ihr Resettlement-Programm drastisch zusammengekürzt. Sie geben an, dass sie Probleme haben, die Flüchtlinge auszuwählen und zu überprüfen. Ich hoffe, dass die amerikanische Regierung diese Probleme bald löst und wieder mehr Kapazitäten schafft.

SPIEGEL: Hinter der Entscheidung steht vor allem Donald Trump. Aber die EU setzt auf einen ähnlichen Ansatz, auch sie schottet sich zunehmend ab.

Grandi: Da muss man unterscheiden: Es gibt Probleme mit irregulärer Migration, mit Zuwanderern, die eher aus wirtschaftlichen Gründen ihr Land verlassen. Die müssen wir von Flüchtlingen unterscheiden. Das ist kompliziert, aber wichtig.

SPIEGEL: Legale Wege in die EU gibt es aber auch für Flüchtlinge kaum noch, weil die Grenzen vielerorts dicht sind. Sie sind größtenteils gezwungen, illegal einzureisen, wenn sie Asyl beantragen wollen.

Grandi: Das stimmt. Aber es ist wichtig, auf irreguläre Migration zu reagieren, um zu vermeiden, dass zu viele Menschen das Asylsystem missbrauchen. Viele irreguläre Migranten haben keine andere Wahl, als Asyl zu beantragen, und überlasten so das Asylsystem – das muss korrigiert werden. Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass irreguläre Migranten Menschen sind. Ihre Rechte und ihre Würde müssen gewahrt werden. Es ist niederschmetternd zu sehen, wie Migranten dämonisiert und stigmatisiert werden.

SPIEGEL: Andauernde Kriege, Hungersnöte, dazu die Folgen des Klimawandels: In den kommenden Jahren werden eher mehr Menschen flüchten als weniger. Ist die Welt darauf vorbereitet?

Grandi: Sie ist nicht sehr gut vorbereitet. Neue Fluchtursachen wie der Klimawandel wirken sich auf verschiedene Arten aus: Menschen werden etwa nach und nach von untergehenden Inseln fliehen – den Umgang damit kann man planen. Sie werden auch fliehen, weil Naturkatastrophen häufiger vorkommen und größere Schäden anrichten werden – diese Menschen werden ihre Heimat plötzlich verlassen, aber könnten irgendwann zurückkehren. Auf jede dieser Fluchtursachen müssen Staaten mit unserer Hilfe eine maßgeschneiderte Antwort finden.

SPIEGEL: Muss die Genfer Flüchtlingskonvention ausgeweitet werden, um auch Klimaflüchtlinge anzuerkennen?

Grandi: In der gegenwärtigen politischen Situation wäre es äußerst unklug, den Geltungsbereich der Konvention zur Debatte zu stellen. Jeder Versuch, die Konvention zu reformieren, würde mit ziemlicher Sicherheit aktuell dazu führen, dass die Flüchtlingsdefinition verengt oder die gesamte Konvention infrage gestellt würde.

SPIEGEL: Das halten Sie für möglich?

Grandi: Ja, fast überall auf der Welt haben Politiker Erfolg damit, Flüchtlinge als Sicherheitsproblem oder Invasoren zu bezeichnen. Die Gefahr ist, dass das Konzept des Flüchtlingsschutzes ganz verschwindet. Wenn ich Regierungen in Afrika, Lateinamerika und anderen Teilen der Welt auffordere, ihre Grenzen angesichts großer Flüchtlingsströme offen zu halten, fragen sie mich, warum sie das tun sollten. Schließlich wollen sich selbst reichere Länder abschotten. Die EU nimmt derzeit vergleichsweise wenige Flüchtlinge auf – gleichzeitig hat sie mehr Ressourcen zur Verfügung. Europa hat deswegen eine Verantwortung, Flüchtlingen weiterhin Schutz zu bieten.

SPIEGEL: Sie haben beim Global Refugee Forum auch Unternehmen wie Lego und Ikea eingeladen mitzudiskutieren. Sollen jetzt Firmen helfen, wenn sich immer weniger Staaten für den Flüchtlingsschutz engagieren?

Grandi: Nein, die Unterstützung von Flüchtlingen liegt in erster Linie in der Verantwortung von Staaten. Aber warum sollten wir nicht um die Hilfe anderer Akteure werben und Unternehmen einbinden? Wir leben in einer Zeit, in der Flüchtlinge oftmals als Problem dargestellt werden. Da ist jede zusätzliche Hilfe willkommen. Außerdem helfen private Akteure dabei, Arbeitsplätze zu schaffen und Regionen wirtschaftlich voranzubringen, die viele Flüchtlinge aufnehmen.

SPIEGEL: Auf den griechischen Ägäisinseln leben derzeit mehr als 40 000 Migranten und Flüchtlinge in Lagern unter unmenschlichen Bedingungen. Warum schaffen es das UNHCR, die EU und der griechische Staat nicht, diese Menschen angemessen zu versorgen?

Grandi: Ich war vor drei Wochen in Griechenland und habe mit der Regierung gesprochen. Die Zahl der Ankünfte auf den Ägäisinseln war lange Zeit sehr niedrig, aber in den vergangenen Monaten ist sie wieder gestiegen. Unsere Priorität ist es, die Inseln zu entlasten, indem mehr Menschen auf das Festland gebracht werden.

SPIEGEL: Das Flüchtlingsabkommen zwischen der Türkei und der EU sieht aber vor, dass die Asylbewerber bis zu ihrem Bescheid auf den Inseln bleiben.

Grandi: Die griechische Regierung will in den kommenden Monaten 20 000 Asylbewerber aufs Festland bringen, um die Zustände zu verbessern. Anders geht es nicht. Die Kinder werden zuerst von den Inseln gebracht. Kurzfristig ist das die beste Lösung.

SPIEGEL: Die griechische Regierung hat zudem angekündigt, geschlossene Lager zu bauen. Was halten Sie davon?

Grandi: Von außergewöhnlichen Situationen abgesehen, sind wir gegen die Inhaftierung von Asylsuchenden, auch wenn sie in vielen Ländern der Welt Routine ist. Wir müssen nun abwarten, wie die Pläne umgesetzt werden.

SPIEGEL: Wie lange werden Ihre Mitarbeiter in der Ägäis bleiben?

Grandi: 2015 glaubten wir, dass wir nur kurz und ausnahmsweise in Griechenland aktiv werden müssten. Es ist überhaupt das erste Mal, dass das UNHCR eine große Operation in der Europäischen Union organisiert hat, was zeigt, dass es in Europa eine humanitäre Krise gibt. Aber ich habe Premierminister Kyriakos Mitsotakis gesagt, dass wir Griechenlands eigene Kapazitäten ausbauen sollten. Unsere knappen Ressourcen werden in Afrika, Asien und dem Nahen Osten gebraucht.

SPIEGEL: Die EU bezahlt die libysche Küstenwache dafür, dass sie Flüchtende auf dem Meer abfängt. Viele enden in Inhaftierungslagern unter schrecklichen Bedingungen. Halten Sie das für legitim?

Grandi: Menschen in den eigenen Territorialgewässern abzufangen ist nicht illegal. Die Europäer können libysche Institutionen stärken, wenn sie das für richtig halten. Aber ich habe mit dem Ansatz zwei Probleme: Erstens wurde neben der Küstenwache keine andere Institution im Land gestärkt. Und so landen Migranten und Flüchtlinge in Inhaftierungslagern, sobald sie an Land gebracht werden. Zweitens hat die EU ihre eigenen Rettungskapazitäten reduziert, und einige Politiker haben zudem die zivilen Retter kritisiert, die eingesprungen sind. Es wurde sogar so dargestellt, als würden wegen der NGOs noch mehr Menschen fliehen, obwohl das statistisch nicht belegt ist. Das ist eine Schande.

SPIEGEL: Wie ist die Situation in den Inhaftierungslagern?

Grandi: Das sind schreckliche Orte. Allerdings nimmt die Zahl der Menschen, die in den offiziellen, uns bekannten Lagern gefangen sind, zum ersten Mal ab. Das Problem ist, dass in Libyen selbst außerhalb der Lager die Situation für Migranten sehr gefährlich ist. Draußen tobt der Krieg, vor allem subsaharische Migranten werden gekidnappt und ausgenutzt.

SPIEGEL: Im Internet kursiert ein UNHCR-Dokument, in dem steht, dass in einem Flüchtlingslager in Tripolis einige Migranten bald kein Essen mehr bekommen werden. Dem UNHCR wird vorgeworfen, diese Menschen aushungern zu wollen, um sie aus der überfüllten Einrichtung zu vertreiben.

Grandi: Auch Migranten oder Flüchtlinge, die das Zentrum verlassen, bekommen von uns weiterhin Hilfe, auch in Form von Geld. Ich verstehe die Frustration dieser Menschen, wirklich. Das Dilemma, mit dem wir in Libyen konfrontiert sind, ist ein wiederkehrendes Element unserer Arbeit: Entweder wir bleiben und leben mit den Schwierigkeiten vor Ort und mit den moralischen Herausforderungen. Dann können wir ein paar Menschen retten und ausfliegen. Oder wir entscheiden, dass wir keine Kompromisse machen, und verlassen das Land. Die Situation ist ohne Zweifel eine der schwierigsten, in denen wir uns seit Jahren befunden haben.

SPIEGEL: Sie sind beinahe täglich mit Leid und Elend konfrontiert. Wie hat Ihre Arbeit Ihren eigenen Blick auf die Welt verändert?

Grandi: Ich schaue besorgter auf die Welt als noch vor ein paar Jahren. Aber ich bin nicht naiv. Wenn ich glaubte, dass wir nichts mehr tun könnten, würde ich diesen Job nicht mehr machen. Ich denke, dass uns noch Zeit bleibt, um Lösungen zu finden, die nicht aus Zäunen und Mauern bestehen. Aber viel Zeit haben wir nicht mehr.

Migratioun an Asylfro als Menace vun der europäescher Liewensweis

Carte blanche vum Paul Estgen op RTL 2. Oktober 2019

Virun en puer Wochen huet Madamm Ursula von der Leyen, déi designéiert Presidentin vun der Europäescher Kommissioun hir Ressortverdeelung fir déi nei Kommissioun virgestallt. D’Propositioun fir e Ressort mam Numm vum « Schutz vun der europäescher Liewensweis » ze schafen, huet fir vill Opreegung gesuergt. Dozou eng Carte Blanche vum Paul Estgen, Soziolog um Centre Jean 23.

D’Ukënnegung vun der designéierter Presidentin vun der Europäescher Kommissioun ass mat ganz gemëschte Gefiller opgeholl ginn. Verschidde grouss politesch Gruppen aus dem Europaparlament hu ganz kloer zum Ausdrock bruecht, dass dat absolut net akzeptabel ass. Et geet hei manner ëm eng Konzeptklärung, wat een dann ënnert «europäescher Liewensweis » géif verstoen, wei ëm de politeschen Hannergrond. An de Ressort gehéiert dann och d’Migratioun an d’Asylpolitik dozou. Domadder ass jo ënnerschwelleg kloer, dass Madamm von der Leyen d’Migratioun an d’Asylfro als Menace gesäit vun der europäeschen Liewensweis. Jidderee versteet jo gutt, dass et sech heibäi haaptsächlech ëm e Schachzuch handelt, fir déi riets-extrem Tendenzen an Europa ze berouegen. Mä et ass fir mech erschreckend , dass intelligent Leit, déi sech melle fir déi héchsten europäesch Ämter, sech net ze schued sinn, esou Ieselzegkeeten an d’Welt ze setzen. Wéi wann d’Bierger net minimal kënne matdenken, an op en esou plompt Manöver géifen erafalen.

Wann een déi Propositioun géif eescht huelen, dann misst sech jo kennen en kloert Bild maachen, wat dann di Europäesch Liewensweis ass. Wann et se gëtt, géif dat heeschen, dass mer se sou kennen definéieren, dat mer se genau sou bei dem Paräisser Bänker erëmfannen, wei beim rumänesch Bauer; dass dat genau sou gesinn gëtt bei den Finnen an am Norden , wei den Malteser am Süden, dass d’Liewensweis vun mengen Elteren sech net fundamental ënnerscheet vun dem vun mengen Kanner. An wat ass iwwerhaapt Liewensweis ? Denken mer do éischter un en Liewensstil oder iwwert Grondwäerter déi ons Kultur ënnermaueren ? Mee dann hätt en besser et géif en vun europäescher Kultur oder Identitéit schwätzen.

An der Soziologie gëtt dës Begrëfflechkeet vun „Liewensweis“ jiddefalls net vill hier, fir ze verstoen, wat d’Kommissioun dann elo domadder mengt.

Natierlech gouf d’Madamm von der Leyen dorops ugeschwat. Si berifft sech dann op Grondwäerter, déi am EU-Vertrag stinn: Mënschenwierd, Fräiheet, Demokratie, Gläichheet an Rechtsstaatlechkeet. An dësem Sënn wär et dann éischter ubruecht, fir den «Schutz vun den europäeschen Grondwäerter» als Titel ze benotzen. An da kéint een och d’Zesummeleeë vun der Fro vu Migratioun an Asyl an dësem Kontext als e positive Schrëtt deiten: eng europäesch Politik, déi sech elo endlech ëm eng kohärent Migratiouns an Flüchtlingspolitik këmmert. Dat heescht, dass mer aus Grënn vun der Mënschewierd direkt domadder ophalen Diktaturen ze bezuelen, domadder mengen ech Tierkei a Libyen, fir ons d’Flüchtlinge vum Hals ze halen. Dass dann Europa alles a Beweegung setzt, fir d’Leit aus dem Mëttelmier ze retten, dass mer eng aner Léisung sichen, fir d’Flüchtlingen op Lesbos, wou se ënnert dramatesche Konditioune mussen drop waarden, ob se ugeholl ginn, fir eng Asylprozedur. Dass mer endlech Dublinreegelen ofänneren, Prinzip wou d’Flüchtlingen an deem Land wou se ukommen och musse bleiwe, a wat just d’Symbol ginn ass vun engem Europa ouni Solidaritéit tëscht de Länner.

Fir mech also e kloren Nee zu engem Ressort mam Numm „Schutz vun der europäescher Liewensweis“ , mä e kloert Jowuert zu eng Titel : „Schutz vun den europäeschen Grondwäerter“. Ons Liewensweis ka roueg verschidde sinn, mä ech hoffen, dass mer als Europäer eng Rëtsch vu Grondwäerter deelen, an dann och bereet sinn, dës ze verdeedegen.

 

41 réfugiés repris par le Luxembourg

En réponse à une question parlementaire du député Fernand Kartheiser le Ministre Jean Asselborn a fourni les informations suivantes :

Sait 2018 sinn an deem Kader 41 Leit zu Lëtzebuerg ukomm. Des Persoune waren op der MV Lifeline, der Aquarius, der Seawatch Ml, der Alan Kurdi an der Cigala Fulgosi. Wat d’Nationalitéit vun de Leit ubelaangt, esou waren et 17 Persounen aus dem Sudan, 7 aus Eritrea, 6 aus Somalia, 4 aus dem Nigeria, a 7 Leit ausdiversen anere Lânner. Dorënner waren 39 Manner, 1 Fra an 1 Kand.

La question et la réponse

La Méditerranée: scène naturelle d’un drame sans fin

par Agnes Rausch

Open Arms, Ocean Viking, Aquarius, Sea Watch, tels sont les noms de navires de sauvetage en Méditerranée, dont on peut entendre régulièrement parler dans les nouvelles. Ils sont affrétés par des ONG allemande, française, italienne, espagnole, comme Médecins sans Frontières, SOS Méditerranée, Proactiva. A bord des équipes de bénévoles engagés, composées de marins compétents, d’un personnel médical dévoué, de médiateurs culturels et parfois même d’experts en communication. Ils ont une chose en commun: vouloir sauver des vies humaines et ceci dans le strict respect du droit international de la mer.

Luxemburger Wort 7/8 septembre 2019

Die­se Po­li­tik ist ein Ver­bre­chen/ Il y a une impunité qui est insupportable

Même sujet dans le Soir du 1 août 2019

Recht und Un­recht  Die Zeit 32

Ca­te­ri­na Lo­ben­stein

»Die­se Po­li­tik ist ein Ver­bre­chen«

Der is­rae­li­sche An­walt Omer Shatz hat An­ge­la Mer­kel und an­de­re EU-Ver­ant­wort­li­che vor dem Straf­ge­richts­hof in Den Haag ver­klagt. Sein Vor­wurf: Sie tra­gen schwe­re Schuld am Elend der Flücht­lin­ge auf dem Mit­tel­meer

DIE ZEIT: Herr Shatz, seit 2014 sind mehr als 18.000 Men­schen im Mit­tel­meer er­trun­ken. Wir Jour­na­lis­ten schrei­ben von Un­glü­cken, Po­li­ti­ker spre­chen von ei­ner Tra­gö­die. Sie sind An­walt. Wie nen­nen Sie das, was auf dem Mit­tel­meer pas­siert?

Omer Shatz: Ein Ver­bre­chen. Jah­re­lang wur­de uns weis­ge­macht, es sei ein tra­gi­sches Er­eig­nis, ei­ne Art Na­tur­ka­ta­stro­phe. Die Be­wei­se, die ich mit mei­nem Kol­le­gen Juan Bran­co und mit mei­nen Stu­den­ten über drei Jah­re hin­weg ge­sam­melt ha­be, zei­gen aber: Die To­ten sind fes­ter Be­stand­teil des Plans, die Mi­gra­ti­ons­strö­me aus Afri­ka ein­zu­däm­men. Die­se Po­li­tik wur­de in den letz­ten fünf Jah­ren vor­sätz­lich ent­wor­fen und um­ge­setzt. Sie ist kei­ne Tra­gö­die: Sie ist ein Ver­bre­chen ge­gen die Mensch­lich­keit.

ZEIT: Was ge­nau mei­nen Sie da­mit?

Shatz: Dass wir es mit ei­nem sys­te­ma­ti­schen An­griff auf die Zi­vil­be­völ­ke­rung zu tun ha­ben. In die­sem Fall: auf Mi­gran­ten, die im Mit­tel­meer er­trin­ken oder von der li­by­schen Küs­ten­wa­che zu­rück nach Li­by­en ge­bracht wer­den. Vie­le lan­den in La­gern, wo sie ge­fol­tert, ver­sklavt, ver­ge­wal­tigt wer­den – und oft erst frei­kom­men, wenn sie oder ih­re Fa­mi­li­en Geld zah­len.

ZEIT: Sie ha­ben des­halb beim In­ter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hof in Den Haag Kla­ge ge­gen die EU ein­ge­reicht. Der Straf­ge­richts­hof er­mit­telt nicht ge­gen Staa­ten, nur ge­gen In­di­vi­du­en. Wen wol­len Sie zur Ver­ant­wor­tung zie­hen? Jean-Clau­de Juncker? An­ge­la Mer­kel?

Shatz: Ja. Spit­zen­po­li­ti­ker wie Juncker, Mer­kel oder Em­ma­nu­el Ma­cron, aber auch die vie­len Hel­fer auf den mitt­le­ren Ebe­nen der Macht: die Bü­ro­kra­ten in Brüs­sel, die Be­am­ten in den Mi­nis­te­ri­en, die Ka­pi­tä­ne der Fron­tex-Schif­fe. Und es gibt noch die Ak­teu­re in Li­by­en. Die Küs­ten­wäch­ter zum Bei­spiel oder die li­by­sche Be­hör­de, die die La­ger un­ter­hält. Ge­gen ei­ni­ge er­mit­telt der In­ter­na­tio­na­le Straf­ge­richts­hof be­reits.

ZEIT: Wenn der Straf­ge­richts­hof schon er­mit­telt, wo­zu Ih­re Kla­ge?

Shatz: Weil die Er­mitt­lun­gen sich bis­lang auf li­by­sche Tä­ter be­schrän­ken. Wir wol­len, dass sie aus­ge­wei­tet wer­den auf die Ver­ant­wort­li­chen in der EU.

ZEIT: Glau­ben Sie wirk­lich, dass der In­ter­na­tio­na­le Straf­ge­richts­hof, der Dik­ta­to­ren und War­lords ver­ur­teilt, Er­mitt­lun­gen ge­gen Mer­kel und Juncker ein­lei­tet?

Shatz: Mein Mit­strei­ter Juan Bran­co hat am In­ter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hof ge­ar­bei­tet, er weiß, wie ei­ne An­kla­ge­schrift aus­se­hen muss, da­mit sie ernst ge­nom­men wird. Wir ha­ben drei Jah­re re­cher­chiert, ha­ben un­zäh­li­ge zum Teil ge­hei­me Do­ku­men­te stu­diert, Ex­per­ten der Ver­ein­ten Na­tio­nen und re­nom­mier­te Völ­ker­rechts­ex­per­ten kon­sul­tiert. Es ist nicht so, dass hier zwei durch­ge­knall­te Ty­pen auf ei­nen Kreuz­zug ge­gen Mer­kel und Ma­cron ge­hen. Wir ha­ben ei­ne sehr so­li­de ju­ris­ti­sche Ar­gu­men­ta­ti­on ent­wi­ckelt, die auf star­ken Be­wei­sen fußt.

ZEIT: Was wer­fen Sie Mer­kel und den an­de­ren kon­kret vor?

Shatz: Ers­tens: Mord durch un­ter­las­se­ne Hil­fe­leis­tung. Das be­trifft die Po­li­tik der EU zwi­schen 2014 und 2015, nach­dem die ita­lie­ni­sche Ret­tungs­mis­si­on Ma­re No­strum ein­ge­stellt wur­de. Zwei­tens: das Out­sour­cen der See­notret­tung an die li­by­sche Küs­ten­wa­che und die Rück­füh­rung der Mi­gran­ten nach Li­by­en, wo sie Op­fer schwers­ter Ver­bre­chen wer­den. Die­ser zwei­te Punkt be­trifft die ak­tu­el­le Po­li­tik der EU-Mit­glieds­staa­ten, die wir seit 2016 be­ob­ach­ten kön­nen. 2015 war die li­by­sche Küs­ten­wa­che le­dig­lich an 0,5 Pro­zent der Ret­tungs­ak­tio­nen be­tei­ligt. Heu­te sind es et­wa 90 Pro­zent.

ZEIT: Die EU lässt die Mi­gran­ten nach Li­by­en brin­gen. Die Ver­bre­chen in den La­gern wer­den aber nicht von EU-Po­li­ti­kern ver­übt.

Shatz: Oh­ne die Mi­gra­ti­ons­po­li­tik der EU bräuch­te es die La­ger nicht. Die Ak­teu­re aus der EU tre­ten na­tür­lich nicht di­rekt als Tä­ter auf. Sie nut­zen die Li­by­er als Hand­lan­ger. Ein klas­si­sches Mus­ter im in­ter­na­tio­na­len Straf­recht, das fin­det man über­all.

ZEIT: Wo noch zum Bei­spiel?

Shatz: Wis­sen Sie, ein Teil mei­ner Fa­mi­lie wur­de wäh­rend des Ho­lo­causts ge­tö­tet – von Li­tau­ern und Po­len, aber die Po­li­tik da­hin­ter stamm­te von den Deut­schen. Oder neh­men Sie die afri­ka­ni­schen War­lords, die hat­ten eben­falls ih­re Voll­stre­cker. Meist sind es ein­fa­che Sol­da­ten und Mi­li­zio­nä­re, klei­ne Leu­te. In un­se­rem Fall zum Bei­spiel die Of­fi­zie­re der li­by­schen Küs­ten­wa­che. Im Auf­trag der EU fan­gen sie Mi­gran­ten ab und brin­gen sie nach Li­by­en zu­rück. Die EU schaut da­bei zu, und zwar wort­wört­lich. Es gibt ein Vi­deo vom No­vem­ber 2017. Man sieht dar­auf, wie die Li­by­er ver­su­chen, ein Schiff der Or­ga­ni­sa­ti­on Sea-Watch bei der Ret­tung von Mi­gran­ten zu stö­ren. Da­bei ster­ben rund 20 Men­schen, vor den Au­gen der EU-Ver­tre­ter, die eben­falls vor Ort sind. Wie in ei­nem Thea­ter­stück ste­hen sie am Ran­de der Sze­ne­rie: ein fran­zö­si­sches Ma­ri­ne­schiff, ein por­tu­gie­si­scher He­li­ko­pter, ein ita­lie­ni­sches Schiff. Kei­ner hilft bei der Ret­tung. Sie schau­en ta­ten­los zu, wie die Men­schen er­trin­ken.

ZEIT: Wie er­klä­ren Sie sich das?

Shatz: Es gibt ein Ge­richts­ur­teil aus dem Jahr 2012, das zu ken­nen in die­sem Zu­sam­men­hang wich­tig ist. Da­für müss­te ich ein we­nig aus­ho­len.

ZEIT: Bit­te.

Shatz: 2012 sprach der Eu­ro­päi­sche Ge­richts­hof für Men­schen­rech­te das so­ge­nann­te Hir­si-Ur­teil. Es ging dar­in um ei­ne Grup­pe von So­ma­li­ern und Eri­tre­ern, die im Jahr 2009, al­so noch zu Gad­da­fis Zei­ten, von Li­by­en nach Ita­li­en flie­hen woll­ten. Sie wur­den von der ita­lie­ni­schen Küs­ten­wa­che ge­ret­tet, aber zu­rück nach Li­by­en ge­bracht. Ei­ni­ge von ih­nen ha­ben dar­auf­hin ge­gen Ita­li­en ge­klagt – mit Er­folg. Das Ur­teil hat zwei Din­ge klar­ge­stellt. Ers­tens: Wer im Mit­tel­meer Men­schen ret­tet, darf sie nicht ein­fach ir­gend­wo ab­set­zen, son­dern nur in ei­nem si­che­ren Land. Zwei­tens: Li­by­en ist kein si­che­res Land. Das Hir­si-Ur­teil galt als bahn­bre­chend und soll­te die Rech­te der Mi­gran­ten im Mit­tel­meer stär­ken, aber es hat­te fa­ta­le Fol­gen. Es war ei­ner der Grün­de, war­um die EU sich auf lan­ge Sicht von der See­notret­tung zu­rück­zog.

ZEIT: Die EU hat doch die li­by­sche Küs­ten­wa­che auf­ge­baut, da­mit sie die Men­schen ret­tet.

Shatz: Ja. Ei­ne Küs­ten­wa­che, die so un­pro­fes­sio­nell ist, dass sie lan­ge nicht mal in der La­ge war, auf ho­her See ei­nen Fisch zu fan­gen – und die in ih­ren Rei­hen Kri­mi­nel­le hat, die vom Men­schen­schmug­gel pro­fi­tie­ren. Wir ha­ben die Aus­sa­ge ei­nes Zeu­gen, der von der li­by­schen Küs­ten­wa­che ab­ge­fan­gen wur­de. Bei sei­nem zwei­ten Ver­such, über das Mit­tel­meer zu flie­hen, schaff­te er es nach Si­zi­li­en. Er sagt, die li­by­schen Küs­ten­wäch­ter, die ihn beim ers­ten Mal auf­ge­grif­fen ha­ben, sei­en die­sel­ben Leu­te ge­we­sen, die ihn spä­ter auf das Schlep­per­boot nach Eu­ro­pa setz­ten. Die Küs­ten­wa­che ist in den Men­schen­schmug­gel in­vol­viert. Und die EU bil­det die­se Küs­ten­wa­che aus, schickt Geld, Schif­fe, Aus­rüs­tung, für Hun­der­te Mil­lio­nen Eu­ro – un­ser al­ler Steu­er­geld.

ZEIT: Falls der Straf­ge­richts­hof in Den Haag die Er­mitt­lun­gen über­haupt ein­lei­tet: Was ge­nau hät­ten Sie ge­gen Eu­ro­pas Po­li­ti­ker denn tat­säch­lich in der Hand?

Shatz: Im Fall von An­ge­la Mer­kel kön­nen wir zum Bei­spiel zei­gen, dass sie über die Zu­stän­de in Li­by­en sehr ge­nau Be­scheid wuss­te. 2017 er­hielt sie ei­ne Nach­richt vom deut­schen Bot­schaf­ter in Ni­ger. Er schrieb, es ge­be in Li­by­en La­ger, in de­nen täg­lich ver­ge­wal­tigt und ge­fol­tert wer­de. Er ver­glich die­se La­ger mit den Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern der Na­tio­nal­so­zia­lis­ten. Er hat tat­säch­lich die­sen Be­griff be­nutzt: Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger. Drei Ta­ge spä­ter hat Mer­kel die Er­klä­rung von Mal­ta un­ter­zeich­net – je­nes Flücht­lings­ab­kom­men zwi­schen der EU und Li­by­en, das un­ter an­de­rem die Rück­füh­rung der Mi­gran­ten nach Li­by­en re­gelt.

ZEIT: Die deut­sche Re­gie­rung hat auf Ih­re Vor­wür­fe re­agiert. Sie sagt, Deutsch­land ha­be 300 Men­schen aus den li­by­schen La­gern be­freit und aus­ge­flo­gen.

Shatz: Das stimmt. Aber was ist mit den an­de­ren rund 40.000 Men­schen, die al­lein zwi­schen 2016 und 2018 auf dem Mit­tel­meer ab­ge­fan­gen und in die La­ger ge­bracht wur­den?

ZEIT: Die deut­sche Re­gie­rung sagt auch, sie wol­le hel­fen, die Be­din­gun­gen in den li­by­schen La­gern zu ver­bes­sern.

Shatz: Wenn man es mit Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern zu tun hat, dann ver­bes­sert man dort nicht die Be­din­gun­gen – man schließt sie. Wir füh­ren in der EU ei­nen or­well­schen Dis­kurs. Seit ein paar Wo­chen, seit im Zu­ge der Kämp­fe in Li­by­en ein La­ger bei Tri­po­lis bom­bar­diert wur­de und mehr als 40 Men­schen star­ben, plä­diert die EU of­fi­zi­ell da­für, in­haf­tier­te Mi­gran­ten aus Li­by­en zu eva­ku­ie­ren. Gleich­zei­tig fängt die li­by­sche Küs­ten­wa­che wei­ter­hin Mi­gran­ten ab und bringt sie in die La­ger – im Auf­trag der EU. Die La­ger sind ei­ne töd­li­che Ma­schi­ne, und die EU ver­sorgt die­se Ma­schi­ne mit im­mer neu­en Men­schen.

ZEIT: Vie­le Eu­ro­pä­er glau­ben, die Men­schen müss­ten nach Li­by­en ge­bracht wer­den, da­mit an­de­re nicht er­mu­tigt wer­den, die ge­fähr­li­che Fahrt übers Meer an­zu­tre­ten.

Shatz: Das ist das Pull­fak­tor-Ar­gu­ment. Es hält sich hart­nä­ckig, ob­wohl die Fak­ten da­ge­gen­spre­chen. Aber selbst wenn es den Pull­fak­tor gä­be, wür­de ich da­für plä­die­ren, Men­schen aus der li­by­schen Kriegs­zo­ne zu be­frei­en. Selbst wenn es Ter­ro­ris­ten wä­ren, die vor der li­by­schen Küs­te er­trin­ken, wä­re ich da­für, sie zu ret­ten – und sie dann ein­zu­sper­ren.

ZEIT: Was sa­gen Sie zu dem Ar­gu­ment, die Men­schen in den Schlauch­boo­ten sei­en Wirt­schafts­mi­gran­ten, die sich frei­wil­lig auf den Weg mach­ten – und des­halb kei­ne Hil­fe er­war­ten könn­ten?

Shatz: Na­tür­lich kön­nen wir, wenn wir ge­müt­lich beim Cock­tail sit­zen, auch die­ses Ar­gu­ment dis­ku­tie­ren. Aber wir soll­ten da­bei ei­nes nicht ver­ges­sen: Vie­le Men­schen sind als Wirt­schafts­mi­gran­ten nach Li­by­en ge­kom­men. Aber wenn sie es aus Li­by­en her­aus­schaf­fen, sind sie kei­ne Wirt­schafts­mi­gran­ten mehr. Sie sind Über­le­ben­de. Li­by­en ist ein Kriegs­ge­biet, in dem ge­fol­tert, ver­ge­wal­tigt und ge­tö­tet wird. Was wir eben­falls nicht ver­ges­sen soll­ten: Es ist kei­ne hu­ma­ni­tä­re Ges­te, Men­schen zu ret­ten. Es ist un­se­re Pflicht. Es geht hier nicht um die po­li­ti­sche Fra­ge, ob wir schutz­be­dürf­ti­ge Men­schen auf­neh­men wol­len. Es geht um ju­ris­ti­sche Pflich­ten.

ZEIT: Auch die­se Pflich­ten sind mitt­ler­wei­le po­li­tisch um­strit­ten.

Shatz: Ja, es zwingt auch nie­mand die EU, sich Ver­trä­gen zu un­ter­wer­fen, die das Le­ben von Men­schen schüt­zen. His­to­risch be­trach­tet ist es ei­ne re­la­tiv neue Idee, nicht nur Staats­bür­ger, son­dern Men­schen per se zu schüt­zen. Die­se Idee wur­de zwar in Eu­ro­pa er­fun­den, aber na­tür­lich kön­nen die Eu­ro­pä­er aus der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on, die einst als Kon­se­quenz aus dem Ho­lo­caust ent­stand, oh­ne gro­ßen Auf­wand wie­der aus­tre­ten. Am En­de geht es um die Fra­ge, wer wir sein wol­len. Wol­len wir die Men­schen­rech­te schüt­zen oder nicht?

ZEIT: Sie sind nicht der Ers­te, der die Mi­gra­ti­ons­po­li­tik der EU ver­ur­teilt. Am­nes­ty In­ter­na­tio­nal hat das ge­tan, Ärz­te oh­ne Gren­zen, die Ver­ein­ten Na­tio­nen, der Papst. War­um soll­te aus­ge­rech­net Ih­re Kla­ge et­was ver­än­dern?

Shatz: Or­ga­ni­sa­tio­nen wie Am­nes­ty In­ter­na­tio­nal se­hen das, was in Li­by­en und auf dem Mit­tel­meer pas­siert, durch die Bril­le von Men­schen­recht­lern. Wir schau­en es uns aus der Per­spek­ti­ve des in­ter­na­tio­na­len Straf­rechts an. Wir sa­gen: Was hier pas­siert, sind nicht nur Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen, es sind Ver­bre­chen. Das ist ein gro­ßer Un­ter­schied.

ZEIT: Der Straf­ge­richts­hof in Den Haag ist nicht da­für be­kannt, ge­gen west­li­che Ver­däch­ti­ge vor­zu­ge­hen.

Shatz: Ja. Als die Chef­an­klä­ge­rin des Ge­richts­hofs mög­li­che Kriegs­ver­bre­chen der US-Ar­mee in Af­gha­nis­tan un­ter­su­chen woll­te, be­kam sie da­für kei­ne Zu­stim­mung von den Rich­tern. Die USA hat­ten Druck auf das Ge­richt aus­ge­übt. In un­se­rem Fall stam­men da­ge­gen al­le Ver­däch­ti­gen aus der EU, und de­ren Mit­glieds­staa­ten ha­ben das Sta­tut des Ge­richts­hofs un­ter­zeich­net. Des­halb kann die Chef­an­klä­ge­rin hier ein­fach er­mit­teln, sie muss die Rich­ter nicht um Er­laub­nis fra­gen. Was hel­fen könn­te, ist die Tat­sa­che, dass die Ver­bre­chen, um die es geht, nicht wie üb­lich in der Ver­gan­gen­heit lie­gen. Sie dau­ern an – auch wenn wir es oft gar nicht mehr mer­ken. Vor we­ni­gen Wo­chen erst sind vor Tu­ne­si­en rund 80 Men­schen er­trun­ken – und kaum je­mand hat dar­über be­rich­tet.

ZEIT: War­um stump­fen wir so leicht ab?

Shatz: Wir ge­wöh­nen uns dar­an. Wir sa­gen nicht: Wie konn­te das pas­sie­ren? Son­dern: Es ist ei­ne Tra­gö­die, und die ak­zep­tie­ren wir ir­gend­wann. Es ist mensch­lich, un­mensch­lich zu sein. Ich kom­me aus Is­ra­el, un­se­re Ge­sell­schaft be­steht aus Flücht­lin­gen. Aber in Is­ra­el hei­ßen schutz­be­dürf­ti­ge Men­schen nicht Flücht­lin­ge oder Asyl­be­wer­ber, auch nicht Mi­gran­ten. Sie hei­ßen in­fil­tra­tors, Ein­dring­lin­ge. Und tat­säch­lich for­dert ein Flücht­ling ja die Sou­ve­rä­ni­tät des auf­neh­men­den Staa­tes auf ei­ne ge­ra­de­zu be­droh­li­che Wei­se her­aus. Er muss erst an­kom­men – oder: ein­drin­gen –, be­vor er das Recht hat, um Asyl zu bit­ten. Der An­de­re, der Frem­de wird zur Ge­fahr, weil er in die Ge­mein­schaft ein­dringt.

ZEIT: Wä­re es bes­ser, wenn die Ent­schei­dung, ob je­mand in Eu­ro­pa blei­ben darf, schon vor sei­ner An­kunft fällt?

Shatz: Na­tür­lich. Die Asyl­po­li­tik der EU ist ge­schei­tert, wir brau­chen ei­ne neue. Die­se Po­li­tik fußt bis­lang auf dem Prin­zip der in­di­vi­du­el­len Ver­fol­gung und ist ge­prägt von der Zeit des Kal­ten Krie­ges, als man vor al­lem po­li­ti­sche Dis­si­den­ten im Sinn hat­te. In den letz­ten Jah­ren aber wur­den vie­le Men­schen nicht in­di­vi­du­ell ver­folgt, son­dern als Kol­lek­tiv, et­wa weil sie vor ei­nem Bür­ger­krieg oder ei­ner Na­tur­ka­ta­stro­phe flie­hen muss­ten. Des­halb spre­chen vie­le Ex­per­ten nicht mehr von Flücht­lin­gen im en­gen Sin­ne der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on, son­dern von per­sons in need of in­ter­na­tio­nal pro­tec­tion, von Schutz­be­dürf­ti­gen. Die Mi­gran­ten, die die EU nach Li­by­en zu­rück­schickt, zäh­len da­zu.

ZEIT: Wenn der In­ter­na­tio­na­le Straf­ge­richts­hof die Er­mitt­lun­gen nicht ein­lei­tet, war Ih­re Ar­beit dann um­sonst?

Shatz: Am En­de wird nicht nur der Straf­ge­richts­hof über die­se Ver­bre­chen rich­ten, son­dern auch die Ge­schich­te. Und ich glau­be nach wie vor dar­an, dass vie­le Men­schen das Be­dürf­nis ha­ben, nachts gut zu schla­fen.

Fo­to: Ke­vin McEl­va­ney; Twit­ter (u.)

In der Nacht auf den 22. De­zem­ber 2016 wur­den 112 Mi­gran­ten auf dem stür­mi­schen Mit­tel­meer ge­ret­tet

Omer Shatz (39) ist An­walt und lehrt an der Yale Uni­ver­si­ty und an der Uni­ver­si­tät Sci­en­ces Po in Pa­ris. Sein Mit­strei­ter Juan Bran­co (29) ist ei­ner der An­wäl­te des Wi­ki­Leaks-Grün­ders Ju­li­an Ass­an­ge